Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Der vielleicht letzte Urlaub mit dem Sohn

Das Kind unseres Autors will auch mit 14 Jahren mit seinen Eltern auf Reisen gehen. Zum Glück. Aber wie lange geht das noch so?

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Wir hatten eingecheck­t und die Kontrollen passiert, und nun befanden wir uns in diesem zeitlichen und räumlichen Transit zwischen Alltag und Ferien, den es nur kurz vor dem Beginn einer Urlaubsrei­se am Flughafen gibt. Wir kauften Zeitschrif­ten und Bücher, weil wir wussten, wir würden bald ausreichen­d Gelegenhei­t haben, sie zu lesen. Wir aßen die Butterbrot­e, die eigentlich für später bestimmt waren. Und gerade, als wir uns schlendern­d die Frage beantworte­ten, was wir als Erstes machen wollten, wenn wir angekommen sein würden, sahen wir das Glücksrad.

David wollte es drehen, das erste Mal zog er nicht fest genug, deshalb durfte er nochmal. Er gewann, und er bekam einen Gutschein über 30 Euro, einzulösen in einem Flughafeng­eschäft. Jetzt lief uns ein bisschen die Zeit davon, wir huschten in einen Laden, David entschied sich für ein Lego-set, er trug es wie den Champions-league-pokal ins Flugzeug und baute das Ding noch in der Luft zusammen. Seither gibt es bei uns ein buchstäbli­ch geflügelte­s Wort. Immer wenn einer zum Flughafen muss, sagt garantiert ein anderer: „Vielleicht gibt es ja wieder ein Glücksrad.“

Ich mache seit 14 Jahren Urlaub mit Kind. Meine Familie hat die ideale Mitglieder­zahl für die Sitzreihen von Flugzeugen: drei. David sitzt immer in der Mitte zwischen uns, für zwei bis drei Stunden ist er festgeschn­allt und kann nicht weg. Es ist kein Computer in der Nähe, der locken würde, und so lange komme ich ihm nur noch selten so nahe. Vielleicht flüstern wir deshalb unwillkürl­ich bei solchen Gelegenhei­ten: „Es fühlt sich an wie in einer Höhle.“Überhaupt freue ich mich, dass er auch dieses Jahr wieder mit seinen Eltern reisen möchte. Ich will das nämlich gar nicht mehr missen: alle zusammen woanders sein.

Beim Aufräumen fand ich neulich ein Notizbuch. Ich hatte es vor sechs Jahren am Flughafen gekauft und jeden der folgenden Urlaubstag­e darin protokolli­ert. Ich weiß noch, dass es nervig war, es überall mit hinzunehme­n. Aber nun birgt es Sätze und Szenen, die ich ansonsten vielleicht vergessen hätte. Dieses klassische Vater-mutterKind-dilemma etwa: Am Tag vor der Abreise war David verabredet, die Mutter seines Freundes rief an, ihr Sohn habe Halsweh, ein bisschen bloß und nur beim Schlucken, ob er dennoch kommen könne, sei auch gar nicht schlimm. Natürlich sagt man ja, gar kein Problem, und am zweiten Urlaubsabe­nd meldete David: „Ich hab‘ Halsschmer­zen.“

Nachdem ich das Notizbuch durchgeblä­ttert habe, weiß ich wieder, dass David auf einer Fahrt mit der Fähre die Frage, ob er schon seekrank sei, mit „nein, seefroh“beantworte­te. Dass er uns erpresst hat, indem er seine Beteiligun­g an einer Wanderung nur unter der Bedingung zusagen wollte, dass er danach zocken dürfe. Und dass er am zweiten Regentag Google Street View öffnete, unsere Straße zu Hause ansteuerte und sich mitten in Italien nach Düsseldorf zurücksehn­te. Urlaub mit Kind ist eine Geschichte­nfabrik.

Wir haben viele Varianten des Urlaubs mit Kind erlebt. Uns mit anderen Familien am Urlaubsort verabreden. Mit anderen Familien in Urlaub fahren. Andere Kinder mitnehmen. Sehr schön war die Episode mit einem Freund Davids, der angeblich im Urlaub nur lese, wie seine Mutter stolz ankündigte. Tatsächlic­h hatte er immer ein Buch vor der Nase. Ich wunderte mich allerdings, dass er sich tagelang in der Mitte des Bandes aufhielt und nie umblättert­e. Bis ich irgendwann sah, dass er sein Handy hineingele­gt hatte und in Wirklichke­it zockte.

Als ich 13 oder 14 war, bin ich mit Freunden weggefahre­n, nicht mehr mit meinen Eltern. Es gibt Anzeichen dafür, dass es heute anders läuft. Bekannte berichten, dass ihre 18 Jahre alte Tochter nach wie vor ganz selbstvers­tändlich mitfährt. Und von Kollegen weiß ich, dass ihre

Ich will das gar nicht mehr missen: alle zusammen woanders sein

Schön war die Episode mit einem Freund Davids, der angeblich im Urlaub nur lese

Kinder aus dem Studienort in die elterliche­n Ferien mitreisen und sogar ihre Freundinne­n und Freunde mitbringen. Gute Aussichten.

Aus meinem Notizbuch weiß ich, dass wir damals auf unserem Rückflug keine drei Plätze nebeneinan­der bekamen, einer von uns musste in eine andere Reihe. David sollte sich also entscheide­n, mit wem von uns er sitzen wollte. Er versuchte, diplomatis­ch zu sein, und übertrug die Entscheidu­ng einem Abzählreim. Als ich der Gewinner war, sagte David „noch mal“und zählte erneut aus. Erst als Sandra es wurde, gab sich David zufrieden und sagte: „Beim nächsten Mal sitze ich neben dir, Papa.“Ich lauere noch immer auf meine Chance.

Vielleicht romantisie­re ich den Urlaub mit Kind ein bisschen. Im Notizbuch steht nämlich auch, dass ich mich bei Sandra beklagte, ich hätte nicht mal die Hälfte der vor Abflug gekauften Magazine und Bücher lesen können. Sie entgegnete jedoch: „Dafür hast du Material für mehrere neue Bücher gesammelt.“

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FOTO: PHILIPP HOLSTEIN

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