Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Im 90. Jahr ihres Bestehens macht die Firma Lego satte 1,8 Milliarden Euro Gewinn. Doch durch die Inflation wird das Spielzeug immer mehr zum Luxusgut – und erstmals gibt es in der Branche echte Konkurrenz.
Für ganze Generationen von Kindern dieser Welt ist es ein Glücksfall, dass die Dorfschreinerei im dänischen Billund wiederholt abbrannte. Im Sommer 1932 stellte ihr Besitzer Ole Kirk Kristiansen seine Produktion komplett auf Spielzeug um: Jo-jos, Nachziehtiere, Autos und Bausteine. Aus Holz natürlich, sorgfältig geschliffen und im Zweifel mit einer oder zwei Schichten Farbe mehr bemalt als bei der Konkurrenz. Schnell stand das Motto „Nur das Beste ist gut genug“, dann kam der Firmenname Lego dazu, eine Abkürzung für „Leg godt“(„Spiel gut“). Schließlich schaffte der Chef die erste Spritzgussmaschine an – nicht zuletzt, weil Plastik im Brandfall still vor sich hin schmilzt, anstatt dem Feuer weitere Nahrung zu bieten.
Inhaltlich wurde das geniale Bau- und Spielsystem schnell zur Erfolgsgeschichte, doch um die Jahrtausendwende drohte eine durch ökonomische Unbedarftheit heraufbeschworenen Insolvenz. Dann übernahm der Ex-mckinsey-berater Jørgen Vig Knudstorp die Firma, zerlegte sie in Einzelteile und baute sie ganz neu zusammen. Seitdem geht es auch wirtschaftlich steil bergauf: Im vergangenen Jahr hat Lego absolute Rekordwerte bei Umsatz (7,4 Milliarden Euro) und Gewinn (1,8 Milliarden Euro) erzielt, also eine Traum-rendite von 24 Prozent.
Die Steine sind beliebter denn je, auch bei Mädchen. Dass dafür eigens eine violett und türkis glitzernde Parallelwelt namens„lego Friends“geschaffen werden musste, ist zwar schade, aber nicht die Schuld des Unternehmens, dessen Vision vom geschlechtsneutralen Spielzeug bei den Mädchen (oder ihren Eltern?) nie recht verfing. Maßgebliche Umsatzbringer sind heute auch Erwachsene, die inhaltlich und marketingtechnisch clever angesprochen wurden – Stichwort: Bauerlebnisse als analoge Auszeit vom digitalen Dauerstress – und in der Corona-zeit massenhaft die immer größeren und teureren Bausätze kauften. Mit dem Nerdtum im Allgemeinen ist auch Lego cool geworden, ein fester Bestandteil der Popkultur.
Und doch steht Lego womöglich am Scheideweg. Denn praktisch alle maßgeblichen Patente sind ausgelaufen. Und den exzellenten Ruf bei Eltern und Erziehern genießt genau genommen nicht oder jedenfalls nicht nur die Marke Lego, sondern ihr zeitlos geniales Produkt.
Jahrzehntelang war diese Unterscheidung irrelevant, weil im Kerngeschäft schlicht keine Konkurrenz existierte: Wer wollte, was man im Volksmund „Legosteine“nennt, bekam diese Steine nur bei der Firma Lego.
Die traditionellen Mitbewerber stellten entweder anderes analoges Spielzeug her (von Puppen über Sammelkarten bis hin zu ferngesteuerten Autos) oder lockten die Kinder und Jugendlichen mit Serien, Filmen, später Videospielen vor den Fernseher. All das hat Lego clever in den Griff bekommen. Einerseits durch Kooperationen: Zu den beliebtesten LegoBausätzen gehören seit Jahren jene, die zu den neuesten Erzeugnissen aus den Universen Star Wars, Harry Potter, Batman und Co. passen oder Gefährte von Lamborghini oder Harley-davidson im Kleinformat darstellen – teuer eingekaufte Lizenzen machen‘s möglich. Andererseits hat Lego sein Geschäft diversifiziert, verdient an Büchern und Kleidung mit dem Lego-logo, an Videospielen und sogar Kinofilmen.
Beinahe unbemerkt aber gerät das Kerngeschäft unter Druck: Immer mehr Firmen aus aller Welt bieten komplexe, detailgetreue oder schlicht durch ihre pure Größe imposante Modelle aus kleinen Klemmbausteinen an, zu 100 Prozent kompatibel mit dem dreidimensionalen Lego-raster. Manchmal dreist geklaut von Lego oder privaten Meisterbauern. Immer häufiger aber völlig legal. Und stets zu einem Bruchteil der Preise, die der Branchenprimus aufruft.
Mehr als 60 solcher Anbieter listet etwa die Online-enzyklopädie Wikipedia auf. Mancher davon mag längst vom Markt verschwunden sein, andere wie das Berliner Start-up Mybrickz sind noch nicht gelistet. Dessen Gründer haben allerdings auch erst einen einzigen Baukasten im Programm, einen beim Marktführer schmerzlich vermissten vollwertigen Bahnhof mit Wartehalle, Blumenladen und Kiosk. Sehr viel weiter sind Hersteller wie Cobi (Polen), Cada, Mould King und Qman (China) und vor allem Bluebrixx aus Flörsheim bei Mainz.
Lego betreibt in Deutschland 17 eigene Ladengeschäfte. Bluebrixx hat (wohl nicht ganz zufällig) 18. Die ambitionierte Firma ist jung, hat aber die umsatzstarke Model Car World Gmbh sowie die Beteiligungsgesellschaftvendis Capital im Rücken. Offensiv positioniert sich Bluebrixx als Alternative für erwachsene Fans realistischer historischer Gebäude und Fahrzeuge. Ein Ausrufezeichen setzte Bluebrixx vor einem Jahr mit dem Erwerb der Lizenz für die Raumschiffe aus dem Star-trek-universum. Für Kinder gedacht sind unter anderem die Baukästen des Herstellers Playtive Clippys (Lidl), die enorm günstig sind trotz Lizenzen etwa von Asterix oder Bibi und Tina. Angesichts dieser Konkurrenz könnten die schon immer hochpreisigen Lego-baukästen, für die die nächste Preiserhöhung von bis zu 25 Prozent bereits angekündigt ist, in Zeiten rasanter Inflation zumindest in fabrikneuer Form zum Luxusprodukt werden.
Dabei hinkt die Qualität des Marktführers dem eigenen Premium-anspruch teils hinterher. Hier sind Steine zu schwach oder schief bedruckt, dort liegen stattdessen ohnehin nur Bögen mit Aufklebern bei (beim
Modell eines Bmw-motorrads für derzeit 200 Euro sind es rund 80 Stück), die nur schwer präzise anzubringen sind und weniger wertig wirken. Zudem häufen sich Berichte über verkratzte Scheiben, unpassend bonbonbunte Elemente an prominenten Stellen und Farbabweichungen. Kindern dürfte vieles davon egal sein, den Käufern bis zu 800 Euro teurer Vitrinen-modelle weniger.
Auch wächst die Zahl normaler Baukästen, die massiv in der Kritik stehen, weil Legos hauseigene Profit-optimierer die Entwürfe der Designer manchmal über jede Schmerzgrenze hinaus zusammenstreichen. Beispielhaft genannt sei der Helikopter-transporter Nummer 60343 für 30 Euro – unter anderem ohne Türen für beide Fahrzeuge. Oder die kümmerliche Schule ohne Dach samt rudimentärem Bus, den Lego unbescheiden „legendär“nennt, der aber statt Türen bloß eine Laderampe hat – für ein Kind im Rollstuhl, das aber nicht in diesen Bus passt. Jenes Set 60329 für 60 Euro beschreibt ein YoutubeNutzer so: „Schlechte Straßen, Schüler stehend in kaputten Bussen, marode/lieblose Schule. Das ganze völlig und offensichtlich überteuert. (…) Ein Meisterwerk in Gesellschaftskritik, gebaut aus wenigen Steinen.“
Zur Wahrheit gehört, dass das Ausreißer sind; in der Regel bieten moderne Lego-baukästen deutlich mehr Details, realistischere Farben, kreativere Bautechniken sowie liebevoller ausgestaltete Figuren als in den von vielen erwachsenen Fans als „Goldene Ära“empfundenen 80er- und 90er-jahren. Doch just dieses Wissen um die heutigen Möglichkeiten (und die Rekordeinnahmen) lässt offensichtlich ohne Not kaputtgesparte Sets umso peinlicher wirken.
Auch ist schon erstaunlich, dass viele der kreativsten Modelle von stolzen Fans erdacht und in der Konzernzentrale nur auf Massentauglichkeit getrimmt wurden („Lego Ideas“-reihe). Die scheinbare Weltsensation der Möglichkeit zum Umbau eines Modells in andere wiederum („Creator 3 in 1“) hatte Lego jahrzehntelang bei jedem einzelnen Baukasten mit Fotos angeregt. „Jeden Tag ein neues Spielzeug“, so lautete einmal der Werbeslogan. Doch fast niemand hat die Absicht, ein einmal „richtig“zusammengesetztes Lizenz-set umzubauen, geschweige denn dessen Bestandteile in eine große Wühlkiste mit den anderen Noppensteinen zu werfen.
Gedacht war das so nicht. In der oft arg aufgeheizten Debatte zwischen Fans und Kritikern des Konzerns aber gerät deren große Gemeinsamkeit aus dem Blick: die Liebe zum Baustein. Beim Leipziger Sebastian Beintker vom Liebhaber-blog namens steckkastenkrew.de hat dieses Gefühl eine besondere Dimension: „Zwischen Kachelofen und grauem Zweitakt-trabbi- Qualm waren die leuchtend bunten Bausteine aus den duftenden Westpaketen etwas ganz Besonderes.“Viele moderne Sets lassen ihn kalt, doch die Klassiker stellt er umso liebevoller bei Youtube vor – und genießt davor „die wunderbare Entschleunigung, wenn ich alte Bausteine zusammenstecke“.
Lukas Kurth (31) kann das nachfühlen, relativiert jedoch: „Wenn man ohne nostalgische Brille durch alte Kataloge blättert, findet man auch dort einige Totalausfälle.“Der Siegener betreibt die von der Firma Lego unabhängige, kritische, aber stets sachliche und faire Internetseite stonewars.de – und das so erfolgreich, dass der gelernte Maschinenbauingenieur sein Hobby zum Hauptberuf gemacht hat. Polemik hält er für unangebracht, der Kern mancher Kritik aber sei umso relevanter: „Wenn getreu dem Firmenmotto ‚nur das Beste gut genug‘ ist, sollte Lego deutlich mehr Energie in die Beseitigung selbst kleinster Qualitätsprobleme stecken.“Zugleich beobachtet er eine Fehlwahrnehmung: Lego sei zwar über seine Stiftung sozial engagiert und nach wie vor in Familienbesitz, aber kein „nettes kleines Familienunternehmen“. Kurth sagt: „Die wertvollste und profitabelste Spielzeugmarke der Welt wird alles dafür tun, die Margen so hoch zu halten, wie sie es aus den vergangenen Jahren gewohnt ist.“
Dazu gehört auch die Ausschöpfung aller rechtlichen Mittel in Disputen etwa mit dem einflussreichen Frankfurter Youtuber Thomas Panke („Held der Steine“) oder dem Paderborner Fachhändler Thorsten Klahold („Johnny‘s World“). Über Letzteren schrieb die „Zeit“, er habe „eine Menge Ärger mit Lego. Aber Lego auch mit ihm.“Klahold will Klarheit darüber, welche Lego-kompatiblen Figuren er verkaufen darf und welche nicht. Das liegt nicht im Interesse des Konzerns.
Egal, was kommt: Um die Steine und Figuren, die bewiesenermaßen Kreativität, Kommunikation, Motorik und mehr fördern, vor allem aber ein herrliches Spielzeug sind, muss niemand fürchten. Sie sind zeitlos, unverwüstlich – und gebraucht auch relativ erschwinglich. Die Firma Lego mag nicht unsterblich sein. Das von ihr geschaffene Medium ist es sehr wohl.