Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Deutschland im Herbst
Wenn man in diesen Tagen auf sein Handy blickt, kommt man aus dem Krisenmodus überhaupt nicht mehr heraus: grauenhafte Bilder aus der Ukraine von Leid, Tod und Zerstörung, Menschen auf der Flucht vor Hungersnöten, Bilder von Waldbränden überall auf dem Globus. Und überall Warnungen von Politikern, Wirtschafts- und Sozialverbänden, vor „Alptraumszenarien“und „Katastrophen“. Die Deutschen tauchen in den kleinen Fluchten des Alltags ab.
Doch auch in der persönlichen Dimension wird einem in diesen Sommermonaten deutlich bewusst, dass die Corona-pandemie nicht vorbei ist. Auch wenn sich alle gemeinsam Mühe geben, das geflissentlich zu ignorieren. Die Sorge, ob man dieses Jahr noch mit dem Flugzeug an seinem Urlaubsziel ankommt, wiegt leichter als die Frage, ob man sich dieses Ziel – und vieles andere – im nächsten Jahr noch wird leisten können.
Doch sollten sich die Szenarien bewahrheiten, dann wird der Herbst zu einer gesellschaftlichen und politischen Prüfung ungeahnten Ausmaßes. Die Nerven der Gesellschaft liegen seit Corona blank, die Solidarität – zu Beginn der Pandemie oft beschworen – hat bereits jetzt sehr gelitten. Denn wie man es dreht und wendet: Die letzte Notfallstufe des „Notfallplans Gas“hat dramatische wirtschaftliche und soziale Folgen. Auch wenn es sich sehr technisch anhört. Denn bei erheblichen Störungen der Gasversorgung entscheidet letztlich die Politik, wer noch Gas bekommt. Die anderen werden abgeklemmt. Kurz gesagt: Man sitzt vielleicht im Warmen, hat aber keinen Job mehr. Hält die deutsche Gesellschaft noch zueinander? „Denk ich an Deutschland in der Nacht...“, formulierte einst der große Heinrich Heine. Heute würde er vielleicht dichten: „Denk ich an Deutschland im Herbst.“Und es würde ihm bang werden.