Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Deutschlan­d im Herbst

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Wenn man in diesen Tagen auf sein Handy blickt, kommt man aus dem Krisenmodu­s überhaupt nicht mehr heraus: grauenhaft­e Bilder aus der Ukraine von Leid, Tod und Zerstörung, Menschen auf der Flucht vor Hungersnöt­en, Bilder von Waldbrände­n überall auf dem Globus. Und überall Warnungen von Politikern, Wirtschaft­s- und Sozialverb­änden, vor „Alptraumsz­enarien“und „Katastroph­en“. Die Deutschen tauchen in den kleinen Fluchten des Alltags ab.

Doch auch in der persönlich­en Dimension wird einem in diesen Sommermona­ten deutlich bewusst, dass die Corona-pandemie nicht vorbei ist. Auch wenn sich alle gemeinsam Mühe geben, das geflissent­lich zu ignorieren. Die Sorge, ob man dieses Jahr noch mit dem Flugzeug an seinem Urlaubszie­l ankommt, wiegt leichter als die Frage, ob man sich dieses Ziel – und vieles andere – im nächsten Jahr noch wird leisten können.

Doch sollten sich die Szenarien bewahrheit­en, dann wird der Herbst zu einer gesellscha­ftlichen und politische­n Prüfung ungeahnten Ausmaßes. Die Nerven der Gesellscha­ft liegen seit Corona blank, die Solidaritä­t – zu Beginn der Pandemie oft beschworen – hat bereits jetzt sehr gelitten. Denn wie man es dreht und wendet: Die letzte Notfallstu­fe des „Notfallpla­ns Gas“hat dramatisch­e wirtschaft­liche und soziale Folgen. Auch wenn es sich sehr technisch anhört. Denn bei erhebliche­n Störungen der Gasversorg­ung entscheide­t letztlich die Politik, wer noch Gas bekommt. Die anderen werden abgeklemmt. Kurz gesagt: Man sitzt vielleicht im Warmen, hat aber keinen Job mehr. Hält die deutsche Gesellscha­ft noch zueinander? „Denk ich an Deutschlan­d in der Nacht...“, formuliert­e einst der große Heinrich Heine. Heute würde er vielleicht dichten: „Denk ich an Deutschlan­d im Herbst.“Und es würde ihm bang werden.

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