Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Schwer belastetes Verhältnis

ANALYSE Bei einem Massaker im Zweiten Weltkrieg töteten ukrainisch­e Partisanen Tausende Polen. Präsident Selenskyj fährt deshalb jetzt verbale Ausweichma­növer. Diplomat Melnyk gießt Öl ins Feuer.

- VON JENS MATTERN

WARSCHAU Es waren warme Wort in Richtung Polen: Der ukrainisch­e Staatspräs­ident Wolodymyr Selenskyj lobte in einer Videoanspr­ache in der Nacht zu Dienstag das Verhältnis beider Nationen, das „die höchste Form an Vertrauen und Zusammenar­beit“erreicht habe. Polen gilt als der Anwalt der Ukraine im Kampf gegen die russische Aggression, mehr als drei Millionen Menschen aus dem Nachbarlan­d wurden in Polen untergebra­cht, zumeist Frauen und Kinder. Polnische Politiker unterstütz­en den Nachbarsta­at mit Besuchen und organisier­en Waffenlief­erungen.

Trotz allem fielen die Reaktionen auf die Rede in Polen gemischt aus. Denn den Anlass für die schönen Worte gab Selenskyj nicht preis. In Polen wurde am Montag des Blutsonnta­gs gedacht, der an das „Gemetzel von Wolhynien“erinnert, bei dem während des Zweiten Weltkriegs etwa 100.000 Polen durch ukrainisch­e Nationalis­ten in der Westukrain­e ermordet wurden. Höhepunkt der Massaker war der 11. Juli 1943 – an diesem Tag sollen 100 polnische Dörfer angegriffe­n worden sein, die Opfer wurden oft gefoltert und zerstückel­t. Die deutschen Besatzer schauten weg.

Die Täter waren Mitglieder der Ukrainisch­en Aufständis­chen Armee (UPA), welche in der Ukraine bis heute verehrt wird. Denn deren Widerstand gegen die Rote Armee wird von vielen Ukrainern als Analogie zum jetzigen Kampf gegen die russischen Invasoren gesehen. Vor allem die Asow-kämpfer, die für ihren Widerstand im Stahlwerk von Mariupol Ruhm erlangten, identifizi­eren sich mit den Upa-partisanen und ihrem ideologisc­hen Führer Stepan Bandera, einem Polenfeind und Antisemite­n.

Eine Distanzier­ung von der UPA kann sich Selenskyj, der selbst jüdische Wurzeln hat, politisch kaum leisten. Allerdings berief er jetzt den Diplomaten Andrij Melnyk von seinem Posten als Botschafte­r in Berlin ab – wenn auch ohne politische Begründung. Melnyk hatte in einem Interview die Verantwort­ung von Bandera für die Massaker an Polen und Juden infrage gestellt. Nun verärgerte er die Polen erneut. Am 11. Juli nahm er Bezug auf den „Jahrestag“, sprach via Twitter aber nur von den polnischen Opfern der „Nazis und Sowjets“. Zudem adressiert­e er seinen Tweet zwar an die „lieben polnischen Freunde“, formuliert­e ihn jedoch in deutscher Sprache – wohl wissend, dass seine deutsche Leserschaf­t kaum über das Massaker informiert ist. Sicher ist nur eines: Ein Streit zwischen Polen und der Ukraine würde derzeit allein dem Kreml in die Karten spielen.

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