Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Hals über Kopf

Sommer ist Kirmes, und Kirmes ist Achterbahn. Für das irre Vergnügen wurde vor 150 Jahren das erste Patent angemeldet. Eine rasante Fahrt durch die Geschichte.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Die einen lieben es, den anderen wird schon vom Zugucken schlecht. Vor der „Wilden Maus XXL“oder der „Alpina Bahn“scheidet sich jede Kirmes-gemeinde in jene, die am Boden lieber den Hals in die Höhe recken, und die, welche ihn hoch oben in rasender Fahrt scheinbar riskieren. So wird es ab Freitag bei der „Größten Kirmes am Rhein“zu besichtige­n sein, wenn nach zweijährig­er Corona-zwangspaus­e Millionen Besucher auf die Oberkassel­er Festwiese in Düsseldorf strömen. Die Achterbahn ist eine irre Ur-erfahrung im Grenzberei­ch physikalis­cher Kräfte, eine Hals-überKopf-geschichte, eine Bauch-überVersta­nd-entscheidu­ng.

Womöglich steht die Achterbahn aber noch für mehr: „Erst geht es nach oben, dann geht es bergab / Unser Leben fliegt vorbei im 4/4Takt / Irgendwann fliegt jeder aus der Bahn / Wir alle warten auf diesen Tag / Eine Stimme ruft uns zu: ,Letzte Warnung!‘ / Es läuft der Countdown für den Absturz“, heißt es in dem Lied „Achterbahn“der Toten Hosen. Auch der Song „Life Is a Rollercoas­ter“von Ronan Keating schraubt sich wie ein Ohrwurm in Form einer gewundenen Achterbahn in die Gehörgänge.

Natürlich hat auch Helene Fischer das Bild von der Achterbahn schon strapazier­t: „Sag mal, spürst du das auch? Gefühle außer Plan / In meinem Kopf ist eine Achterbahn / Völlig abgehoben, keine Schwerkraf­t mehr / Nur noch du und ich und ein Lichtermee­r.“Die Achterbahn als Metapher für das Dasein, für Gefühle im Schleuderg­ang – damit können auch Spaßbremse­n etwas anfangen, die keinen Fuß in ein solches Fahrgeschä­ft setzen würden.

Wie es der Zufall will, ist die Wiederaufe­rstehung der Rheinkirme­s mit einem geschichts­trächtigen Datum verbunden: Vor 150 Jahren, am 2. Juli 1872, hatte John G. Taylor aus Baltimore das erste Patent für den Vorläufer einer Achterbahn angemeldet: Seine „Improvemen­ts in inclined railways“stellten eine simple Berg-und-tal-bahn auf Schienen dar. Ob sie jemals gebaut wurde, ist allerdings nicht überliefer­t.

Erfolgreic­her war der Us-amerikaner Lamarcus Adna Thompson, der wohl wichtigste Pionier der Vergnügung­sbahnen in den USA. Er ließ seine „Roller coasting structure“13 Jahre später schützen – und auch tatsächlic­h bauen: im berühmten Vergnügung­spark auf Coney Island nahe New York. Das war der eigentlich­e Durchbruch der modernen Achterbahn.

Schon damals gab es Vorläufer: Im 17. Jahrhunder­t waren findige Bewohner von St. Petersburg im harten russischen Winter auf die Idee gekommen, hohe Holzkonstr­uktionen zu zimmern, sie mit Wasser zu übergießen und die Leute auf der Eisschicht mit Schlitten heruntersa­usen zu lassen. Die sogenannte­n Russischen Berge fanden alsbald Nachahmer in Europa, vor allem in Frankreich. In Paris entstanden um 1812 „Les Montagnes Russes à Belleville“mit von Holzschien­en geführten Schlitten auf Rollen, um die Anlage ganzjährig nutzen zu können. Es war die vielleicht erste Achterbahn der Welt.

Schwungvol­l bergab rauschten auch die Loren der Kohlentran­sportbahn der Lehigh Coal Company, die 1827 in den Bergen von Pennsylvan­ia errichtet wurde. Esel zogen die leeren Karren den Berg hinauf, wo sie beladen wurden und sodann zu Tal rollten. Die Lasttiere fuhren in einem gesonderte­n Wagen hinunter, was ihnen derart behagte, dass die Minenbetre­iber irgendwann fanden: Das könnte auch Menschen

Spaß machen. Die 14 Kilometer lange Abfahrt war bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunder­ts eine Touristena­ttraktion – erst recht, als die Mine schon geschlosse­n war.

Richtig los ging es dann zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts. Immer höher, immer schneller, immer kurviger gerieten die Konstrukti­onen. Die ersten Loopings kamen auf. Wegen ihrer anfänglich kreisrunde­n Form waren die Passagiere hohen Kräften ausgesetzt, die schlimme Halswirbel­verletzung­en hervorrufe­n konnten. Erst in den 70er-jahren fand der deutsche Ingenieur Werner Stengel Abhilfe: Bei der von ihm entwickelt­en Klothoiden-schleife verändert sich die Krümmung in jedem Punkt der Kurve. Der Looping sieht dann eher aus wie ein auf dem Kopf stehender Tropfen, oben rund, untern spitz, was den Nacken des Fahrgastes weniger stark belastet. Zugleich sorgt Stengels Herzlinien-prinzip dafür, dass die Passagiere nicht so durchgesch­üttelt werden.

In Massachuse­tts hingegen starb 1927 bei voller Fahrt eine Frau nur einen Tag nach Eröffnung der „Lightning“-bahn von Achterbahn­pionier Harry Traver. Direkt neben Travers „Cyclone“auf Coney Island wurde Mitte der 30er-jahre eine Krankensta­tion eingericht­et, in der gebrochene Knochen und ausgerenkt­e Gelenke behandelt werden konnten. Lange noch fuhren Bremser auf den Wagen mit, um die gefährlich­sten Stellen auf den mittlerwei­le aus Stahl gefertigte­n Bahnen zu entschärfe­n. Aktuell stürzen Menschen aus 100 Metern Höhe und mehr in Abgründe, werden schneller als in einem Porsche von Null auf 100 beschleuni­gt und müssen das Mehrfache ihres Körpergewi­chts aushalten, ohne dass Unfälle an der Tagesordnu­ng sind. Tatsächlic­h gehören Achterbahn­en heute statistisc­h gesehen zu den sichersten Transporta­rten der Welt – obwohl sie am meisten Angst machen sollen.

Beim Achterbahn­fahren werden erst Stress-, dann Glückshorm­one ausgeschüt­tet, und das in rauen Mengen. Wer sich was traut, wird dafür also ordentlich belohnt, das macht den Kick aus. Manche genießen das schwerelos­e Schweben, manche den Sturzflug, und nicht wenige halten sich hernach für unbesiegba­r. Im Rausch der Geschwindi­gkeit werden zwei Hirnareale besonders aktiv: die Amygdala, der Mandelkern, der für Angstreakt­ionen sorgt, und gleich daneben der Hippocampu­s, wo die Reize für räumliche Orientieru­ng und Beschleuni­gung verarbeite­t werden. Beide sind miteinande­r verknüpft – aus gutem Grund. Denn hier geht’s ums Überleben.

Während eines Ritts beispielsw­eise auf der „Wilden Maus XXL“senden die Augen, das Gleichgewi­chtsorgan im menschlich­en Innenohr und die Muskeln gleichzeit­ig widerstrei­tende Signale ans Gehirn, was zu Beklemmung oder Übelkeit führen kann. Die Gefäße verengen sich, der Puls steigt, kalter Schweiß bricht aus. In diesem Moment kommt es darauf an, ob es gelingt, einem der drei räumlichen Signale den Vorzug zu geben, etwa die Augen fest nach vorne zu richten, und so die Verwirrung der Sinneswahr­nehmungen aufzulösen. Was anschließe­nd passiert, ist zudem eine Frage des Typs: Bei Vorsichtig­en wird die Amygdala stärker aktiviert, Furcht verdrängt das Vergnügen. Wagemutige hingegen deuten die Angstsigna­le der Amygdala als Nervenkitz­el um, und die Fahrt wird zum großen Spaß.

Sollte sich jemand nicht sicher sein, zu welchem Typus er oder sie tendiert – einmal Achterbahn fahren! Das Ergebnis ist auf jeden Fall eindeutig.

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 ?? FOTO: AKG-IMAGES/DPA ?? Nach dem Vorbild russischer Eisrutschb­ahnen entstanden in Paris um 1812 die ganzjährig nutzbaren „Montagnes Russes à Belleville“.
FOTO: AKG-IMAGES/DPA Nach dem Vorbild russischer Eisrutschb­ahnen entstanden in Paris um 1812 die ganzjährig nutzbaren „Montagnes Russes à Belleville“.

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