Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Hals über Kopf
Sommer ist Kirmes, und Kirmes ist Achterbahn. Für das irre Vergnügen wurde vor 150 Jahren das erste Patent angemeldet. Eine rasante Fahrt durch die Geschichte.
Die einen lieben es, den anderen wird schon vom Zugucken schlecht. Vor der „Wilden Maus XXL“oder der „Alpina Bahn“scheidet sich jede Kirmes-gemeinde in jene, die am Boden lieber den Hals in die Höhe recken, und die, welche ihn hoch oben in rasender Fahrt scheinbar riskieren. So wird es ab Freitag bei der „Größten Kirmes am Rhein“zu besichtigen sein, wenn nach zweijähriger Corona-zwangspause Millionen Besucher auf die Oberkasseler Festwiese in Düsseldorf strömen. Die Achterbahn ist eine irre Ur-erfahrung im Grenzbereich physikalischer Kräfte, eine Hals-überKopf-geschichte, eine Bauch-überVerstand-entscheidung.
Womöglich steht die Achterbahn aber noch für mehr: „Erst geht es nach oben, dann geht es bergab / Unser Leben fliegt vorbei im 4/4Takt / Irgendwann fliegt jeder aus der Bahn / Wir alle warten auf diesen Tag / Eine Stimme ruft uns zu: ,Letzte Warnung!‘ / Es läuft der Countdown für den Absturz“, heißt es in dem Lied „Achterbahn“der Toten Hosen. Auch der Song „Life Is a Rollercoaster“von Ronan Keating schraubt sich wie ein Ohrwurm in Form einer gewundenen Achterbahn in die Gehörgänge.
Natürlich hat auch Helene Fischer das Bild von der Achterbahn schon strapaziert: „Sag mal, spürst du das auch? Gefühle außer Plan / In meinem Kopf ist eine Achterbahn / Völlig abgehoben, keine Schwerkraft mehr / Nur noch du und ich und ein Lichtermeer.“Die Achterbahn als Metapher für das Dasein, für Gefühle im Schleudergang – damit können auch Spaßbremsen etwas anfangen, die keinen Fuß in ein solches Fahrgeschäft setzen würden.
Wie es der Zufall will, ist die Wiederauferstehung der Rheinkirmes mit einem geschichtsträchtigen Datum verbunden: Vor 150 Jahren, am 2. Juli 1872, hatte John G. Taylor aus Baltimore das erste Patent für den Vorläufer einer Achterbahn angemeldet: Seine „Improvements in inclined railways“stellten eine simple Berg-und-tal-bahn auf Schienen dar. Ob sie jemals gebaut wurde, ist allerdings nicht überliefert.
Erfolgreicher war der Us-amerikaner Lamarcus Adna Thompson, der wohl wichtigste Pionier der Vergnügungsbahnen in den USA. Er ließ seine „Roller coasting structure“13 Jahre später schützen – und auch tatsächlich bauen: im berühmten Vergnügungspark auf Coney Island nahe New York. Das war der eigentliche Durchbruch der modernen Achterbahn.
Schon damals gab es Vorläufer: Im 17. Jahrhundert waren findige Bewohner von St. Petersburg im harten russischen Winter auf die Idee gekommen, hohe Holzkonstruktionen zu zimmern, sie mit Wasser zu übergießen und die Leute auf der Eisschicht mit Schlitten heruntersausen zu lassen. Die sogenannten Russischen Berge fanden alsbald Nachahmer in Europa, vor allem in Frankreich. In Paris entstanden um 1812 „Les Montagnes Russes à Belleville“mit von Holzschienen geführten Schlitten auf Rollen, um die Anlage ganzjährig nutzen zu können. Es war die vielleicht erste Achterbahn der Welt.
Schwungvoll bergab rauschten auch die Loren der Kohlentransportbahn der Lehigh Coal Company, die 1827 in den Bergen von Pennsylvania errichtet wurde. Esel zogen die leeren Karren den Berg hinauf, wo sie beladen wurden und sodann zu Tal rollten. Die Lasttiere fuhren in einem gesonderten Wagen hinunter, was ihnen derart behagte, dass die Minenbetreiber irgendwann fanden: Das könnte auch Menschen
Spaß machen. Die 14 Kilometer lange Abfahrt war bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Touristenattraktion – erst recht, als die Mine schon geschlossen war.
Richtig los ging es dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Immer höher, immer schneller, immer kurviger gerieten die Konstruktionen. Die ersten Loopings kamen auf. Wegen ihrer anfänglich kreisrunden Form waren die Passagiere hohen Kräften ausgesetzt, die schlimme Halswirbelverletzungen hervorrufen konnten. Erst in den 70er-jahren fand der deutsche Ingenieur Werner Stengel Abhilfe: Bei der von ihm entwickelten Klothoiden-schleife verändert sich die Krümmung in jedem Punkt der Kurve. Der Looping sieht dann eher aus wie ein auf dem Kopf stehender Tropfen, oben rund, untern spitz, was den Nacken des Fahrgastes weniger stark belastet. Zugleich sorgt Stengels Herzlinien-prinzip dafür, dass die Passagiere nicht so durchgeschüttelt werden.
In Massachusetts hingegen starb 1927 bei voller Fahrt eine Frau nur einen Tag nach Eröffnung der „Lightning“-bahn von Achterbahnpionier Harry Traver. Direkt neben Travers „Cyclone“auf Coney Island wurde Mitte der 30er-jahre eine Krankenstation eingerichtet, in der gebrochene Knochen und ausgerenkte Gelenke behandelt werden konnten. Lange noch fuhren Bremser auf den Wagen mit, um die gefährlichsten Stellen auf den mittlerweile aus Stahl gefertigten Bahnen zu entschärfen. Aktuell stürzen Menschen aus 100 Metern Höhe und mehr in Abgründe, werden schneller als in einem Porsche von Null auf 100 beschleunigt und müssen das Mehrfache ihres Körpergewichts aushalten, ohne dass Unfälle an der Tagesordnung sind. Tatsächlich gehören Achterbahnen heute statistisch gesehen zu den sichersten Transportarten der Welt – obwohl sie am meisten Angst machen sollen.
Beim Achterbahnfahren werden erst Stress-, dann Glückshormone ausgeschüttet, und das in rauen Mengen. Wer sich was traut, wird dafür also ordentlich belohnt, das macht den Kick aus. Manche genießen das schwerelose Schweben, manche den Sturzflug, und nicht wenige halten sich hernach für unbesiegbar. Im Rausch der Geschwindigkeit werden zwei Hirnareale besonders aktiv: die Amygdala, der Mandelkern, der für Angstreaktionen sorgt, und gleich daneben der Hippocampus, wo die Reize für räumliche Orientierung und Beschleunigung verarbeitet werden. Beide sind miteinander verknüpft – aus gutem Grund. Denn hier geht’s ums Überleben.
Während eines Ritts beispielsweise auf der „Wilden Maus XXL“senden die Augen, das Gleichgewichtsorgan im menschlichen Innenohr und die Muskeln gleichzeitig widerstreitende Signale ans Gehirn, was zu Beklemmung oder Übelkeit führen kann. Die Gefäße verengen sich, der Puls steigt, kalter Schweiß bricht aus. In diesem Moment kommt es darauf an, ob es gelingt, einem der drei räumlichen Signale den Vorzug zu geben, etwa die Augen fest nach vorne zu richten, und so die Verwirrung der Sinneswahrnehmungen aufzulösen. Was anschließend passiert, ist zudem eine Frage des Typs: Bei Vorsichtigen wird die Amygdala stärker aktiviert, Furcht verdrängt das Vergnügen. Wagemutige hingegen deuten die Angstsignale der Amygdala als Nervenkitzel um, und die Fahrt wird zum großen Spaß.
Sollte sich jemand nicht sicher sein, zu welchem Typus er oder sie tendiert – einmal Achterbahn fahren! Das Ergebnis ist auf jeden Fall eindeutig.