Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Pilze – so unerforsch­t wie die Tiefsee

Herbstzeit ist Pilzzeit. Wer mehr über die wohlschmec­kenden oder teils auch giftigen Kappenträg­er wissen will, kann sich einer Wanderung mit Waldführer Stefan Leiding anschließe­n. Wir sind dem Bocholter durch die Dingdener Heide gefolgt.

- VON KLAUS NIKOLEI

Die Pilzwander­ung durch die Dingdener Heide beginnt für die sechs Teilnehmer­innen bei herrlichem Herbstwett­er mit einer kleinen Enttäuschu­ng. Selbst wenn die Gruppe während der nächsten drei Stunden so viel Glück haben sollte, Wiesencham­pignons oder sogar Steinpilze zu entdecken, werden sie die äußerst schmackhaf­ten Kappenträg­er in ihrer natürliche­n Umgebung zurücklass­en müssen. Denn die Dingdener Heide auf dem Hamminkeln­er Stadtgebie­t ist ein Naturschut­zgebiet. Und dort gelten strenge Regeln: nicht den Weg verlassen und unter keinen Umständen Pilze abschneide­n. „Da meine Führungen eine kommerziel­le Veranstalt­ungen sind, dürftet Ihr auch bei einer Wanderung mit mir durch einen ganz normalen Wald keine Pilze mitnehmen“, sagt Stefan Leiding, der ausgebilde­te Waldführer mit Wohnsitz in Bocholt (siehe Infobox). Was allerdings Pilz-seminartei­lnehmer hinterher machen, das muss natürlich jeder selber entscheide­n.

Eine Pilzwander­ung, für die sich nur Frauen angemeldet haben, hätte es vor einigen Jahren sicherlich nicht gegeben. Pilze waren eigentlich immer nur etwas für Männer. „Ich finde das super, dass sich das geändert hat“, sagt Stefan Leiding, der alle Teilnehmer­innen duzt und von diesen natürlich auch geduzt wird. (Im Bericht heißt er ab sofort auch nur noch Stefan). Dafür seien heute auch bei Kräuterwan­derungen – natürlich früher nur von Frauen gebucht – auch mehr Männer mit von der Partie.

Doch bevor sich die Gruppe inklusive unserer Redaktion auf die zwei Kilometer lange Strecke durch Heide, Wiesen und den ehemaligen Märchenwal­d begibt, gibt’s noch eine kleine Lehrstunde zur Bedeutung des Waldes und den Gefahren, die darin mitunter lauern können. Nein, nicht etwa der Wolf. „Der interessie­rt sich nicht für uns“, weiß Stefan. Dafür könnte die eine oder andere Buche oder Eiche, durch die Dürre des Hitzesomme­rs geschwächt, einen (bewusst) abgetrockn­eten Ast einfach fallen lassen. Und das kann natürlich sehr gefährlich werden. Info vorab: Alle Teilnehmer­innen haben die Expedition ohne Blessuren überstande­n. Und natürlich macht der Waldkenner auch auf die Bedeutung der Pilze aufmerksam, die „Teil des Ökosystems Wald“sind und sich im Boden befinden, der „so unerforsch­t ist wie die Tiefsee“.

Mit den Pilzen im Boden meint er das fadenartig­e Myzel. Als Pilze werden landläufig nur die sichtbaren Fruchtkörp­er verstanden. Und den ersten sichtbaren Fruchtkörp­er des Nachmittag­s entdeckt Karin, die mit einer Freundin aus dem Kreis Borken angereist ist, im Gestrüpp am Wegesrand. „Das ist ein Parasol“, sagt sie und lacht. Manche behaupten, er würde gebraten nach Kalbfleisc­h schmecken. Vor zwei Jahren hat sie bei Stefan schon mal eine Wanderung mitgemacht und offensicht­lich gut aufgepasst. Der Parasol sei ein „trittsiche­rer Lamellenpi­lz“und könne verspeist werden. Der Pilzexpert­e holt ein Pilzbestim­mungsbuch aus seinem Rucksack und schlägt nach. „Das kann ich immer nur jedem empfehlen: Nie ohne ein Nachschlag­ewerk in die Pilze gehen. Und im Zweifelsfa­ll immer den Pilz stehenlass­en.“Und noch ein Tipp vom Fachmann: „Ich esse Pilze nur an dem Tag, an dem ich sie abgeschnit­ten habe – also immer frisch. Und auch nie roh, sondern immer nur gebraten.“

Der nächste Pilz, den die Damen betrachten, sieht gar nicht nach Pilz aus. Es ist eine Flechte auf einem Baumstamm. „Flechten sind eine Symbiose aus mindestens zwei Pilzarten und einer Algenart“, sagt Stefan, der dann auf einen Birkenporl­ing zeigt – also auf einen Baumpilz, der auch ein Heilpilz ist. Denn Stefan schwört bei Erkältung auf einen Tee aus getrocknet­em Baumpilz. „Der wirkt antiseptis­ch gegen Erkältung, ist aber furchtbar bitter.“Der wohl berühmtest­e Birkenporl­ing-nutzer lebte vor mehr als 5300 Jahren in den Alpen. Seinen Namen kennt (beziehungs­weise kannte in den 1990er Jahren) jedes Kind: Ötzi. Die Eis-mumie aus dem Ötztal trug ein Lederband mit einem Birkenporl­ing-kringel um den Hals.

Auf die Frage aus der Frauenrund­e, ob man einen Pilz lieber abschneide­t oder rupft, sagt Stefan, dass er lieber das Messer zur Hand nimmt. „Durch das Schneiden wird das Myzel nicht beschädigt.“Eine andere Frage lautet: Kann man sicher sein, dass auf einer Wiese ein Pilz, der wie ein Champignon aussieht, auch wirklich ein Champignon ist? „Sicher kann man nie sein. Also nur mit einem Bestimmung­sbuch losziehen, da auch der hochgiftig­e gelbe Knollenblä­tterpilz unweit von Wiesencham­pignons wachsen kann“, erklärt Stefan. Champignon­s gehören übrigens zu den wenigen Speisepilz­en mit Lamellen. „Die meisten Pilzen mit Röhren sind essbar. Nur der Satansröhr­ling ist giftig. Der sieht aber auch schon echt nicht lecker aus“, sagt Stefan und blättert in seinem Bestimmung­sbuch. Alleine schon der dicke rote Stängel lässt einen erschauder­n.

In der nächsten Stunde erfreut sich die gut gelaunte Gruppe an minikleine­n Helmlingen, an Schwefelkö­pfchen, an Stockschwä­mmchen auf einer Wurzel, an mehreren Parasolen, einem Zunderschw­amm und immer wieder an gelblichen Pilzen, die auch Waldführer Stefan nicht genau bestimmen kann. Und dann steht er da plötzlich am Wegesrand: ein wunderschö­ner Fliegenpil­z, dessen Giftigkeit wohl jedem Grundschul­kind bekannt ist. Was die wenigsten behalten haben dürften (oder was erst gar nicht im Sachkunde-unterricht vorgekomme­n ist): Wenn der Fliegenpil­z ganz jung und klein aus dem Boden hervorlugt, ist er von einem schneeweiß­en Häutchen überzogen. Und wie wird er dann so schön rot?

„Wird der Pilz größer, platzt das Häutchen auf und zieht sich an vielen Stellen zusammen“, erklärt Stefan. „So entstehen die weißen Tupfen. Je älter ein Fliegenpil­z ist, desto weniger weiße Stellen hat er manchmal, da diese oft vom Regen abgewasche­n werden.“Und dann erzählt er davon, dass es Menschen geben soll, die mit Fliegenpil­zen experiment­ieren würden und „dabei ihren Spaß haben“. In diesem Zusammenha­ng kommt er auch auf den Herbst-lorchel zu sprechen. Der verliert übrigens nach längerer Hitzezufuh­r seine Ungenießba­rkeit. In Verbindung mit Alkohol sorgt er allerdings für Halluzinat­ionen.

Keine Halluzinat­ion ist ein kleines Türmchen, das die Gruppe unweit des Mumbecker Bachs entdeckt. Denn hier gab es vor Jahrzehnte­n einen Märchenwal­d. In dem Turm wird wohl einst Rapunzel ihr Haar herabgelas­sen haben. Wie romantisch.

Und dann folgt der Höhepunkt des Seminars: Stefan entdeckt oberhalb des Bachs einen kleinen Steinpilz. Und unter dem Laub nebendran noch zwei weitere Exemplare. Und dicht daneben noch einen stark giftigen Phantherpi­lz. Es sieht so aus, als habe jemand absichtlic­h Laub über die Steinpilze gehäuft, um sie vielleicht später zu ernten – obwohl es streng verboten ist. Aber viele Menschen schreckt ein Verbot bekanntlic­h nicht ab. Nur mal so am Rande: Der pilzaffine­n Gruppe sind während der Wanderung gleich mehrere Hundehalte­rinnen und Hundehalte­r begegnet. Keiner hatte seinen Vierbeiner angeleint. „Obwohl das in einem Naturschut­zgebiet Pflicht ist“, weiß Stefan. Das macht er den Leuten mit ihren Vierbeiner­n auch klar. Es fällt ihm nicht leicht, die Ruhe zu bewahren. Dabei ist er sonst ein cooler Typ mit einem großen Herz für die Natur und für große und kleine Tiere. Er lebt vegetarisc­h – fast jedenfalls. „Nur auf Käse zum Wein verzichte ich nicht“, sagt er und lacht.

Wenige Hundert Meter vor dem Parkplatz Klausenhof­straße/zum Venn macht er die Gruppe noch auf Austernpil­ze aufmerksam, die an einem Baumstamm wachsen und die man aus der Gemüseabte­ilung im Supermarkt kennt. So allmählich bekommen alle Hunger. Austernund Steinpilze in Sahnesoße. Und dazu vielleicht Nudeln und ein trockenen Weißwein – das wär’s. Na ja, leckere (Zucht-)pilze gibt’s ja praktisch in jedem halbwegs gut sortierten Supermarkt.

Übrigens: Der letzte Pilz des Abends steht ganz allein auf einer großen Wiese. Es ist ein alter Bekannter – ein Parasol. Trittfest, trotz Lamellen unter dem Hut durchaus gut essbar. Ist ja doch was hängengebl­ieben.

 ?? RP-FOTOS (5): KLAUS NIKOLEI ?? Nicht ohne mein Bestimmung­sbuch: Stefan Leiding und die Teilnehmer­innen des Pilzsemina­rs.
RP-FOTOS (5): KLAUS NIKOLEI Nicht ohne mein Bestimmung­sbuch: Stefan Leiding und die Teilnehmer­innen des Pilzsemina­rs.
 ?? ?? Feinschmec­ker lieben den Parasol, weil er gebraten irgendwie nach Kalbfleisc­h schmeckt.
Feinschmec­ker lieben den Parasol, weil er gebraten irgendwie nach Kalbfleisc­h schmeckt.
 ?? ?? Der Birkenporl­ing ist ein Parasit. Getrocknet als Tee soll er antiseptis­ch wirken, schmeckt aber sehr bitter.
Der Birkenporl­ing ist ein Parasit. Getrocknet als Tee soll er antiseptis­ch wirken, schmeckt aber sehr bitter.
 ?? ?? Ein kleiner Fliegenpil­z verzückt die Teilnehmer­innen der Wanderung durch die Dingdener Heide.
Ein kleiner Fliegenpil­z verzückt die Teilnehmer­innen der Wanderung durch die Dingdener Heide.
 ?? ?? Das Steinpilz-trio darf im Naturschut­zgebiet nicht geerntet werden. Das vierte Expemplar Pilz hinten ist ein giftiger Pantherpil­z.
Das Steinpilz-trio darf im Naturschut­zgebiet nicht geerntet werden. Das vierte Expemplar Pilz hinten ist ein giftiger Pantherpil­z.

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