Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Am Recht auf Asyl werden wir nie rütteln“
Der SPD-CHEF sagt, warum seine Partei nach 160 Jahren noch gebraucht wird, was beim Heizungsgesetz schieflief und warum die AFD so stark ist.
Herr Klingbeil, die SPD wird 160 Jahre alt. Ist Ihnen nach anderthalb Jahren Ampel zum Feiern zumute?
Eine Partei, die die älteste Europas ist, hat allen Grund zum Feiern. Und ich freue mich darüber, dass wir das Jubiläum zusammen mit dem vierten sozialdemokratischen Bundeskanzler begehen.
Was bedeutet ein solches Jubiläum?
In den letzten Jahren gab es häufig einen Abgesang auf die Sozialdemokratie. Aber sowohl der Sieg bei der Bundestagswahl als auch die aktuellen Herausforderungen zeigen doch, dass die Sozialdemokratie gebraucht wird. Eine politische Kraft, die sich für Frieden einsetzt und für ein starkes Europa. Die dafür sorgt, dass Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen wieder lauter adressiert werden. Die dafür kämpft, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben und die Industrie den klimaneutralen Umbau schafft.
Der dritte sozialdemokratische Kanzler, Gerhard Schröder, wird nicht dabei sein. Vermasselt er Ihnen die Feierlaune?
Nein. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine ist unsere Position klar: Gerhard Schröder hat sich für die falsche Seite der Geschichte entschieden. Das ist tragisch. Aber er muss selbst beantworten, warum das so ist.
Sie legen persönlich viel Wert auf die außenpolitische Darstellung der SPD. Welche Tradition wollen Sie da fortschreiben?
Die internationale Politik hat für die SPD in 160 Jahren immer einen hohen Stellenwert gehabt. Wir sind sehr stolz darauf, eine internationalistische Partei zu sein, die Verbindungen in die ganze Welt pflegt und den Blick über die eigenen Grenzen wagt. Wir haben im letzten Jahr viel über die Ostpolitik von Willy Brandt gesprochen. Und ich glaube, jetzt geht es in den nächsten Jahren sehr stark um die sozialdemokratische Tradition der Nordsüd-politik.
Warum richten Sie und der Kanzler Ihre Blicke vor allem auf den globalen Süden?
Wir sehen, dass die Länder des globalen Südens heute viel selbstbewusster sind. Wir müssen diesen Ländern auf Augenhöhe begegnen, Partnerschaften und strategische Allianzen mit ihnen ausbauen. Davon hängen auch die politische Stabilität und der Wohlstand bei uns im Land ab.
Wie geht man damit um, dass dort die Bewertung des Ukraine-krieges zum Teil ganz anders ist?
Wir müssen uns von dem Denken freimachen, dass alle so sein wollen wie wir. Länder wie Brasilien, Südafrika, aber auch die Türkei, Indien und Indonesien sind inzwischen sehr starke globale Player. Sie agieren eigenständig und sind bereit, Allianzen gegen Europa einzugehen. Wir müssen daher in den strategischen Dialog. Das machen wir als Partei, das macht der Bundeskanzler. Kurzfristig kann es auch mal Meinungsverschiedenheiten und Enttäuschungen geben. Langfristig ist das aber der richtige Weg.
Wie blicken Sie auf die Stichwahl in der Türkei?
KLINGBEIL Wir brauchen einen Neuanfang mit der Türkei, und deshalb war und ist die Hoffnung, dass das mit einem Wechsel nach den Wahlen einfacher wird. Die beiderseitige Entfremdung unter Erdogan in den letzten 20 Jahren hat niemandem genutzt. Deshalb schmerzt es mich, dass eine Mehrheit der hier in Deutschland lebenden Türken für Erdogan gestimmt hat. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, neue Brücken zwischen Deutschland und der Türkei zu bauen.
Stichwort Ukraine: Wie stehen Sie zur ukrainischen Forderung nach Kampfjets auch aus Deutschland?
Der Selenskyj-besuch war ein wichtiges Zeichen für die deutsch-ukrainische Freundschaft. Zwischen Selenskyj und Scholz ist etwas gewachsen. Der Weg des Kanzlers, gründlich nachzudenken und sich abzustimmen, ist der richtige gewesen. Wir sind der zweitgrößte Geber für die Ukraine nach den USA. Und das neue 2,7-Milliarden-paket hat noch mal langfristig eine Wucht. Wir konzentrieren uns auf die Ausbildung, die Panzer und die Raketenabwehr. Jeder hat unterschiedliche militärische Fähigkeiten. Die Kampfjets gehören bei uns nicht dazu. Die Aussage des Kanzlers gilt hier.
Innenpolitisch dominiert derzeit das umstrittene Heizungsgesetz. Ärgert Sie der Verlauf der Debatte?
Beim Heizungsgesetz sind wir nicht optimal gestartet.
Es war unglücklich, dass wir zuerst über die Klimafrage geredet haben und nun das Soziale hinterhergeschoben werden muss. Das hätte beides von Anbeginn zusammengedacht werden müssen. Sonst laufen wir Gefahr, dass sich die Bürgerinnen und Bürger gegen den Klimaschutz stellen. Jetzt müssen wir im Parlament das Beste daraus machen. Die Klimaneutralität erreichen wir 2045 nur, wenn wir jetzt auch den Gebäudesektor angehen.
Welche Korrekturen erwarten Sie?
Als SPD werden wir dafür sorgen, dass niemand vor eine unlösbare Aufgabe gestellt wird. Mieter müssen besser geschützt werden, indem etwa die Modernisierungsumlage bei der Heizung nicht vollständig auf die Miete umgelegt werden kann. Die soziale Staffelung nach Einkommen muss kommen. Auch werden wir die Altersgrenzen noch mal absenken. Menschen im ländlichen Raum dürfen darüber hinaus keine Sorgen haben, dass sie wegen ihrer Pelletheizung Nachteile haben. Für all das werden wir sorgen. Der Kern des Gesetzes bleibt: Ab dem 1. Januar 2024 muss möglichst jede neu eingebaute Heizung zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden.
Ist der Zeitplan überhaupt noch einzuhalten?
Ich sehe nichts, was dagegen spricht. Wir werden das Gesetz bis zur Sommerpause verabschieden können.
Wie viele Flops darf sich Wirtschaftsminister Habeck denn noch erlauben?
Es stimmt: Die Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger in Bezug auf die Wärmewende ist groß, und das ist nicht gut. Man darf das aber nicht an einer Person festmachen. Ich will noch mal in Erinnerung rufen: Wir wollen Klimaneutralität bis 2045, damit dieser Planet erhalten bleibt, damit die Generation nach uns eine lebenswerte Zukunft hat. Daran werden wir gemessen. Und dafür machen wir auch dieses Gesetz. Aber wir werden es so machen, dass jeder dabei mitkommt.
War es notwendig, dass Habeck seinen Staatssekretär Patrick Graichen entlassen hat?
Minister Habeck hat seine Entscheidung ja ausführlich erklärt. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Ich wünsche mir, dass die Debatte um den klimaneutralen Umbau unseres Landes nun wieder versachlicht wird.
Es geht ja auch ums Geld, Stichwort soziale Staffelung bei der Förderung. Finanzminister Lindner will sich nicht bewegen.
Es ist Geld da, und zwar über den Klimatransformationsfonds. Und wir haben auch die 200 Milliarden Euro aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds zur Bewältigung der Energiekrise noch nicht ausgeschöpft. Dieses Geld würde ich gerne für einen günstigen Industriestrompreis einsetzen. Wir müssen unsere Industrie unterstützen, damit sie zwischen China und den USA nicht unter die Räder gerät.
Wie schauen Sie denn gerade auf die Grünen? Die Partei schwächelt, hat viele gegen sich aufgebracht.
Ich sage noch mal: Das Heizungsgesetz ist ein Ampel-gesetz. Wir werden es nun abermals gemeinsam verbessern. Eine Regierung, die sich ständig gegenseitig vermisst, wird nicht erfolgreich sein.
Dennoch hat man den Eindruck, dass es wieder eine Sehnsucht nach großer Koalition bei der SPD gibt. Erst Berlin, jetzt vielleicht Bremen.
Die Sehnsucht nach einer großen Koalition hat mich bisher nicht erreicht. In Berlin war es eine pragmatische Entscheidung. In Bremen wird Andreas Bovenschulte ausloten, was das Beste für das Land ist.
Wird Ihnen mulmig, wenn Sie die Stärke der AFD im Osten sehen?
Wir müssen besser werden, was das Erklären unserer Politik angeht. Den Kampf gegen die AFD führe ich nicht, indem ich schweige oder indem ich deren Positionen übernehme.
Ist der Schwenk der Ampel hin zu einer rigideren Flüchtlingspolitik auch der starken AFD geschuldet?
Nein. Wir sind ein weltoffenes Land. Wir kümmern uns um diejenigen, die aus Angst vor Krieg oder anderen Katastrophen bei uns Schutz suchen. Am Recht auf Asyl werden wir nie rütteln. Zugleich modernisieren wir das Einwanderungsrecht, weil wir Fachkräfte aus dem Ausland brauchen. Klar ist aber auch: Wer hier aufgrund von unseren Regeln und Gesetzen nicht bleiben kann, der muss Deutschland wieder verlassen. Damit schaffen wir auch Akzeptanz in der Bevölkerung.
Was glauben Sie, wer wird der Unions-herausforderer von Olaf Scholz – Friedrich Merz, Hendrik Wüst oder Markus Söder?
Bei der letzten Bundestagswahl habe ich gelernt: Die Union ist gut für Überraschungen. Ich konzentriere mich deshalb lieber darauf, dass Olaf Scholz wiedergewählt wird.
Was tun Sie am 27. Mai um 17.20 Uhr?
Ich weiß noch nicht genau, wo ich da bin. Aber ich hoffe, die Meisterschaft des FC Bayern feiern zu können.