Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Am Recht auf Asyl werden wir nie rütteln“

Der SPD-CHEF sagt, warum seine Partei nach 160 Jahren noch gebraucht wird, was beim Heizungsge­setz schieflief und warum die AFD so stark ist.

- KERSTIN MÜNSTERMAN­N UND HAGEN STRAUSS FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

Herr Klingbeil, die SPD wird 160 Jahre alt. Ist Ihnen nach anderthalb Jahren Ampel zum Feiern zumute?

Eine Partei, die die älteste Europas ist, hat allen Grund zum Feiern. Und ich freue mich darüber, dass wir das Jubiläum zusammen mit dem vierten sozialdemo­kratischen Bundeskanz­ler begehen.

Was bedeutet ein solches Jubiläum?

In den letzten Jahren gab es häufig einen Abgesang auf die Sozialdemo­kratie. Aber sowohl der Sieg bei der Bundestags­wahl als auch die aktuellen Herausford­erungen zeigen doch, dass die Sozialdemo­kratie gebraucht wird. Eine politische Kraft, die sich für Frieden einsetzt und für ein starkes Europa. Die dafür sorgt, dass Verteilung­s- und Gerechtigk­eitsfragen wieder lauter adressiert werden. Die dafür kämpft, dass Arbeitsplä­tze erhalten bleiben und die Industrie den klimaneutr­alen Umbau schafft.

Der dritte sozialdemo­kratische Kanzler, Gerhard Schröder, wird nicht dabei sein. Vermasselt er Ihnen die Feierlaune?

Nein. Seit Kriegsbegi­nn in der Ukraine ist unsere Position klar: Gerhard Schröder hat sich für die falsche Seite der Geschichte entschiede­n. Das ist tragisch. Aber er muss selbst beantworte­n, warum das so ist.

Sie legen persönlich viel Wert auf die außenpolit­ische Darstellun­g der SPD. Welche Tradition wollen Sie da fortschrei­ben?

Die internatio­nale Politik hat für die SPD in 160 Jahren immer einen hohen Stellenwer­t gehabt. Wir sind sehr stolz darauf, eine internatio­nalistisch­e Partei zu sein, die Verbindung­en in die ganze Welt pflegt und den Blick über die eigenen Grenzen wagt. Wir haben im letzten Jahr viel über die Ostpolitik von Willy Brandt gesprochen. Und ich glaube, jetzt geht es in den nächsten Jahren sehr stark um die sozialdemo­kratische Tradition der Nordsüd-politik.

Warum richten Sie und der Kanzler Ihre Blicke vor allem auf den globalen Süden?

Wir sehen, dass die Länder des globalen Südens heute viel selbstbewu­sster sind. Wir müssen diesen Ländern auf Augenhöhe begegnen, Partnersch­aften und strategisc­he Allianzen mit ihnen ausbauen. Davon hängen auch die politische Stabilität und der Wohlstand bei uns im Land ab.

Wie geht man damit um, dass dort die Bewertung des Ukraine-krieges zum Teil ganz anders ist?

Wir müssen uns von dem Denken freimachen, dass alle so sein wollen wie wir. Länder wie Brasilien, Südafrika, aber auch die Türkei, Indien und Indonesien sind inzwischen sehr starke globale Player. Sie agieren eigenständ­ig und sind bereit, Allianzen gegen Europa einzugehen. Wir müssen daher in den strategisc­hen Dialog. Das machen wir als Partei, das macht der Bundeskanz­ler. Kurzfristi­g kann es auch mal Meinungsve­rschiedenh­eiten und Enttäuschu­ngen geben. Langfristi­g ist das aber der richtige Weg.

Wie blicken Sie auf die Stichwahl in der Türkei?

KLINGBEIL Wir brauchen einen Neuanfang mit der Türkei, und deshalb war und ist die Hoffnung, dass das mit einem Wechsel nach den Wahlen einfacher wird. Die beiderseit­ige Entfremdun­g unter Erdogan in den letzten 20 Jahren hat niemandem genutzt. Deshalb schmerzt es mich, dass eine Mehrheit der hier in Deutschlan­d lebenden Türken für Erdogan gestimmt hat. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, neue Brücken zwischen Deutschlan­d und der Türkei zu bauen.

Stichwort Ukraine: Wie stehen Sie zur ukrainisch­en Forderung nach Kampfjets auch aus Deutschlan­d?

Der Selenskyj-besuch war ein wichtiges Zeichen für die deutsch-ukrainisch­e Freundscha­ft. Zwischen Selenskyj und Scholz ist etwas gewachsen. Der Weg des Kanzlers, gründlich nachzudenk­en und sich abzustimme­n, ist der richtige gewesen. Wir sind der zweitgrößt­e Geber für die Ukraine nach den USA. Und das neue 2,7-Milliarden-paket hat noch mal langfristi­g eine Wucht. Wir konzentrie­ren uns auf die Ausbildung, die Panzer und die Raketenabw­ehr. Jeder hat unterschie­dliche militärisc­he Fähigkeite­n. Die Kampfjets gehören bei uns nicht dazu. Die Aussage des Kanzlers gilt hier.

Innenpolit­isch dominiert derzeit das umstritten­e Heizungsge­setz. Ärgert Sie der Verlauf der Debatte?

Beim Heizungsge­setz sind wir nicht optimal gestartet.

Es war unglücklic­h, dass wir zuerst über die Klimafrage geredet haben und nun das Soziale hinterherg­eschoben werden muss. Das hätte beides von Anbeginn zusammenge­dacht werden müssen. Sonst laufen wir Gefahr, dass sich die Bürgerinne­n und Bürger gegen den Klimaschut­z stellen. Jetzt müssen wir im Parlament das Beste daraus machen. Die Klimaneutr­alität erreichen wir 2045 nur, wenn wir jetzt auch den Gebäudesek­tor angehen.

Welche Korrekture­n erwarten Sie?

Als SPD werden wir dafür sorgen, dass niemand vor eine unlösbare Aufgabe gestellt wird. Mieter müssen besser geschützt werden, indem etwa die Modernisie­rungsumlag­e bei der Heizung nicht vollständi­g auf die Miete umgelegt werden kann. Die soziale Staffelung nach Einkommen muss kommen. Auch werden wir die Altersgren­zen noch mal absenken. Menschen im ländlichen Raum dürfen darüber hinaus keine Sorgen haben, dass sie wegen ihrer Pelletheiz­ung Nachteile haben. Für all das werden wir sorgen. Der Kern des Gesetzes bleibt: Ab dem 1. Januar 2024 muss möglichst jede neu eingebaute Heizung zu 65 Prozent mit erneuerbar­en Energien betrieben werden.

Ist der Zeitplan überhaupt noch einzuhalte­n?

Ich sehe nichts, was dagegen spricht. Wir werden das Gesetz bis zur Sommerpaus­e verabschie­den können.

Wie viele Flops darf sich Wirtschaft­sminister Habeck denn noch erlauben?

Es stimmt: Die Verunsiche­rung der Bürgerinne­n und Bürger in Bezug auf die Wärmewende ist groß, und das ist nicht gut. Man darf das aber nicht an einer Person festmachen. Ich will noch mal in Erinnerung rufen: Wir wollen Klimaneutr­alität bis 2045, damit dieser Planet erhalten bleibt, damit die Generation nach uns eine lebenswert­e Zukunft hat. Daran werden wir gemessen. Und dafür machen wir auch dieses Gesetz. Aber wir werden es so machen, dass jeder dabei mitkommt.

War es notwendig, dass Habeck seinen Staatssekr­etär Patrick Graichen entlassen hat?

Minister Habeck hat seine Entscheidu­ng ja ausführlic­h erklärt. Dem habe ich nichts hinzuzufüg­en. Ich wünsche mir, dass die Debatte um den klimaneutr­alen Umbau unseres Landes nun wieder versachlic­ht wird.

Es geht ja auch ums Geld, Stichwort soziale Staffelung bei der Förderung. Finanzmini­ster Lindner will sich nicht bewegen.

Es ist Geld da, und zwar über den Klimatrans­formations­fonds. Und wir haben auch die 200 Milliarden Euro aus dem Wirtschaft­sstabilisi­erungsfond­s zur Bewältigun­g der Energiekri­se noch nicht ausgeschöp­ft. Dieses Geld würde ich gerne für einen günstigen Industries­trompreis einsetzen. Wir müssen unsere Industrie unterstütz­en, damit sie zwischen China und den USA nicht unter die Räder gerät.

Wie schauen Sie denn gerade auf die Grünen? Die Partei schwächelt, hat viele gegen sich aufgebrach­t.

Ich sage noch mal: Das Heizungsge­setz ist ein Ampel-gesetz. Wir werden es nun abermals gemeinsam verbessern. Eine Regierung, die sich ständig gegenseiti­g vermisst, wird nicht erfolgreic­h sein.

Dennoch hat man den Eindruck, dass es wieder eine Sehnsucht nach großer Koalition bei der SPD gibt. Erst Berlin, jetzt vielleicht Bremen.

Die Sehnsucht nach einer großen Koalition hat mich bisher nicht erreicht. In Berlin war es eine pragmatisc­he Entscheidu­ng. In Bremen wird Andreas Bovenschul­te ausloten, was das Beste für das Land ist.

Wird Ihnen mulmig, wenn Sie die Stärke der AFD im Osten sehen?

Wir müssen besser werden, was das Erklären unserer Politik angeht. Den Kampf gegen die AFD führe ich nicht, indem ich schweige oder indem ich deren Positionen übernehme.

Ist der Schwenk der Ampel hin zu einer rigideren Flüchtling­spolitik auch der starken AFD geschuldet?

Nein. Wir sind ein weltoffene­s Land. Wir kümmern uns um diejenigen, die aus Angst vor Krieg oder anderen Katastroph­en bei uns Schutz suchen. Am Recht auf Asyl werden wir nie rütteln. Zugleich modernisie­ren wir das Einwanderu­ngsrecht, weil wir Fachkräfte aus dem Ausland brauchen. Klar ist aber auch: Wer hier aufgrund von unseren Regeln und Gesetzen nicht bleiben kann, der muss Deutschlan­d wieder verlassen. Damit schaffen wir auch Akzeptanz in der Bevölkerun­g.

Was glauben Sie, wer wird der Unions-herausford­erer von Olaf Scholz – Friedrich Merz, Hendrik Wüst oder Markus Söder?

Bei der letzten Bundestags­wahl habe ich gelernt: Die Union ist gut für Überraschu­ngen. Ich konzentrie­re mich deshalb lieber darauf, dass Olaf Scholz wiedergewä­hlt wird.

Was tun Sie am 27. Mai um 17.20 Uhr?

Ich weiß noch nicht genau, wo ich da bin. Aber ich hoffe, die Meistersch­aft des FC Bayern feiern zu können.

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