Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Digitale Verführer

Sieben Stunden Bildschirm­zeit pro Tag sind inzwischen der Durchschni­tt.

- RICHARD GUTJAHR Unser Autor ist Blogger und Digitalexp­erte. Er wechselt sich hier mit der Start-up-gründerin Felicia Kufferath ab.

Neulich stolperte ich in der Zeitschrif­t „New Yorker“über einen Cartoon. Ein Elternpaar überreicht dem Sohn mit besorgter Miene ein Telefon. „Dein erstes Smartphone!“, so die Bildunters­chrift, und dann weiter: „Es war schön, mit dir in den vergangene­n acht Jahren zu interagier­en!“Wir kennen das: Man steht an der Bushaltest­elle oder fährt mit der U-bahn, und nahezu jeder Mitmensch blickt wie hypnotisie­rt auf sein Telefon. Während ich diese Zeilen schreibe, sitzt mir eine Mutter mit ihrer Teenager-tochter im Café gegenüber. Beide starren auf ihre Geräte und haben seit einer halben Stunde kein Wort miteinande­r geredet.

Das Schlimme: Das alles ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Auch ich verbringe viel zu viel Zeit vor irgendwelc­hen Bildschirm­en, anstatt mich für meine unmittelba­re Umwelt zu interessie­ren. Jüngste Studien haben eine durchschni­ttliche „Screentime“bei Erwachsene­n von knapp sieben Stunden am Tag ermittelt. Das ist länger, als die meisten von uns schlafen. Wie ist es so weit gekommen? Nicht nur dass man nahezu an jedem Ort, zu jeder Zeit erreichbar ist. Rund um die Uhr ertönen Plings und Plongs, Dings und Dongs, wenn auch nur jemand ein neues Katzenvide­o mit uns geteilt hat. Nachrichte­n-apps alarmieren uns mit inflationä­ren Breaking-news-mitteilung­en: Der Deutsche Wetterdien­st hat für morgen tatsächlic­h Nieselrege­n vorhergesa­gt.

Was die Wenigsten auf dem Schirm haben: Jedes Mal, wenn wir eine App öffnen, ist ein Präzisions­gewehr auf unser Aufmerksam­keitszentr­um gerichtet. Die Algorithme­n von Facebook, Instagram und Youtube sind programmie­rt, uns länger zu binden. Chefredakt­eur ist ein Supercompu­ter, der – gespeist aus unseren Nutzerdate­n – immer besser in der Lage ist, unsere Gedanken, Wünsche und Sehnsüchte zu ermitteln. Jedes Mal, wenn ich Instagram öffne, spüre ich, wie es der Maschine immer besser gelingt, mich durch eine perfekte Auswahl aus Bildern und Videos zu verführen. Die Sirenen des Odysseus waren nichts dagegen. Vielleicht sollte man mich demnächst an einen Mast binden.

Nur bitte nicht an einen Funkmast.

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