Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Der pensionierte Polizeichef ist in Sorge
Rüdiger Kunst aus Alpen hat sich als oberster Polizist im Kreis Wesel verabschiedet. Er hat zwar jetzt mehr Zeit für Sport. Aber ganz außer Dienst ist der Mann, dessen Vater schon Schutzmann war, nicht. Er fordert mehr Polizeikräfte.
Die größte Veränderung, nachdem er seinen Schreibtisch geräumt hat, beschreibt Rüdiger Kunst so: „Ich muss nicht mehr am frühen Morgen oder erst abends Sport treiben, sondern kann mir die Zeit dafür aussuchen.“Vor knapp drei Wochen hat sich der Leitende Polizeidirektor, ranghöchster Polizist im Kreis Wesel, in den Ruhestand verabschiedet. Einteilen muss sich der leidenschaftliche Radfahrer und Langläufer seine Trainingseinheiten aber schon noch. Denn der Ruhestand ist eigentlich nur ein Teilruhestand.
Als „Auditor“kümmert sich Rüdiger Kunst noch zwei Jahre lang halbtags um das Qualitätsmanagement der Polizeibehörden im Land. In seiner Freizeit leitet er auch weiterhin den Ortsverein des Deutschen Roten Kreuzes in Alpen. Er blickt auf ein langes Berufsleben zurück, das 1979 in der Bereitschaftspolizeiabteilung Linnich seinen Anfang genommen hat und bis zur Ernennung zum Leitenden Polizeidirektor nur eine Richtung kannte: aufwärts.
Besonders die letzten sechs Jahre dürften dem vierfachen Familienvater – auch seine Frau ist Polizistin – noch lange in Erinnerung bleiben. „Es waren spannende Zeiten, geprägt von der Corona-pandemie und dem Ukraine-krieg“, sagt der Alpener, der gleich zwei Wochen nach seiner Ernennung zum Chefpolizisten im Kreis Wesel mit dem wohl ungewöhnlichsten, tragischsten Fall seiner Polizei-karriere konfrontiert werden sollte.
Ein junger Mann besucht in Bönning-rill die „Mallorca-party“und wird in den frühen Morgenstunden in der Nähe des Reekwalls tödlich verletzt aufgefunden. Vermutet wurde damals eine Unfallflucht. „Wir wissen bis heute nicht, was der junge Mann dort wollte. Er wohnte in Millingen. Sein Heimweg lag in einer ganz anderen Richtung. Der Fall konnte bis heute nicht aufgeklärt werden“, so Kunst.
Tragische Fälle wie dieser oder der von den drei jungen Männern, die Ende Februar 2022 mit ihrem Auto im Weseler Hafenbecken ins Wasser gestürzt waren und ertrunken sind, belasten auch einen erfahrenen Polizeichef. Natürlich. Hinzu kommen immer wieder zum Teil lebensbedrohliche Situationen für Polizisten und der immer rüder werdende Umgang mit Uniformträgern. „Die zunehmende Respektlosigkeit macht mir Bauchschmerzen. Viele wollen diskutieren, sind nicht mehr bereit, notwendige polizeiliche Maßnahmen einfach zu akzeptieren“, sagt Rüdiger Kunst.
Auch die steigende Gewaltbereitschaft in Teilen der Gesellschaft macht dem Pensionär zunehmend Sorgen. Aggressivität sei im Alltag von Polizeibeamten und -beamtinnen immer wieder ein Thema und keinesfalls auf bestimmte Nationalitäten beschränkt. Dazu kämen Straftaten mit terroristischem Hintergrund und Amokläufe. Die Polizei
müsse sich heute mehr denn je auch auf besondere Einsatzlagen vorbereiten.
Rüdiger Kunst nennt ein mögliches Beispiel: „Wenn in einer Schule ein Amoktäter um sich schießt, können die Kolleginnen und Kollegen nicht auf das Sondereinsatzkommando SEK warten. Sie müssen da rein und alles versuchen, um den Täter zu überwältigen.“All diese Aspekte können den Polizeiführer Kunst aber nicht davon abhalten, im Brustton der Überzeugung für den Polizeidienst zu werben: „Aus meiner Sicht ist es trotz allem einer der tollsten Berufe, die man ergreifen kann. Ich habe mich immer sehr darüber gefreut, junge Kolleginnen und Kollegen begrüßen zu dürfen.“
Davon dürften es, wenn’s nach ihm ginge, ruhig noch einige mehr sein: „Die personelle Ausstattung müsste mal durchleuchtet werden. Da könnten wir noch einen guten Schluck aus der Pulle vertragen.“Kontinuierlich junge Polizistinnen und Polizisten einzustellen, sei auch mit Blick auf die zahlenmäßig starken Jahrgänge, die demnächst in Pension gehen, eminent wichtig.
Fragt man ihn nach Spuren, die er beruflich hinterlassen hat, so nennt Kunst vor allem eine durchgreifende Umstrukturierungsmaßnahme: „Wir wollen, dass gewisse Normen eingehalten werden. Dazu musste die Präsenz der Polizei auf der Straße weiter verbessert werden. Das ist uns gelungen.“
Seinem Nachfolger Ulrich Kühn wünscht er die gleiche gute Unterstützung, wie er sie habe erfahren dürfen, und dazu genügend Personal, um die anstehenden Aufgaben zu meistern.