Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Odyssee nach Europa
Der Film „Ich Capitano“erzählt die Geschichte zweier junger Senegalesen, die Schreckliches auf dem Weg nach Italien erleben.
In der europäischen Wahrnehmung beginnt die Flüchtlingskrise im Mittelmeer. Die Bilder der überfüllten Boote, die Kurs auf Lampedusa, Sizilien, Lesbos oder die südspanische Küste nehmen, sind zum Synonym der Fluchtbewegung vom afrikanischen Kontinent nach Europa geworden. Dabei ist die lebensgefährliche Passage über das Mittelmeer für die meisten der Geflüchteten nur der letzte Teil einer monate- oder jahrelangen Odyssee, auf der sie unglaubliche Strapazen und Risiken auf sich genommen haben. Wenn in Matteo Garrones „Ich Capitano“die sizilianische Küste am Horizont auftaucht, ist der Film zu Ende. Denn Garrone interessiert sich für die Geschichte der Menschen vor den Nachrichtenbildern.
Sein Film beginnt an einem Morgen in der senegalesischen Hauptstadt Dakar, wo der 15-jährige Seydou (Seydou Sarr) vergeblich versucht, gegen den Lärm seiner jüngeren Geschwister anzuschlafen. Die verwitwete Mutter (Khady Sy) hält die große Familie mit den Einkünften eines kleinen Straßenmarktstandes mehr schlecht als recht über Wasser. Seydou meldet sich bei ihr zum Fußballtraining ab. Aber er und sein Cousin Moussa (Moustapha Fall) gehen nicht zum Sport, sondern auf eine Baustelle, wo sie seit einigen Monaten heimlich Geld verdienen.
Die beiden Jungs wollen sich gemeinsam auf den Weg nach Europa begeben, dessen Versprechungen von Freiheit und Wohlstand sie vornehmlich aus Youtube-videos kennen. Als er seine Mutter vorsichtig einzuweihen versucht, erstarrt sie vor Schreck, bevor sie ihn mit aller Kraft von seinem Plan abzubringen versucht. Es ist eine kurze Szene von ergreifender Intensität, weil sie die Schmerzen eines unaufhaltsamen Verlusts vorwegnimmt.
Garrone nimmt sich viel Zeit, um das familiäre, kulturelle und spirituelle Leben der beiden Jungen im Senegal zu zeigen, das in ökonomischer Hinsicht ärmlich, aber reich an persönlichen Bindungen ist. Dazu gehören etwa auch die Seelen der verstorbenen Vorfahren, deren Einverständnis für die Reise sie sich durch ein Friedhofsritual bei einem Fetisch-priester einholen. Der Traum von Europa, das macht der Film in seinem ersten Drittel deutlich, bedeutet immer auch schmerzhafte Abschiede von den eigenen Wurzeln.
Der naive Optimismus, mit dem die Jugendlichen den Aufbruch wagen, führt sie geradewegs in die Hölle einer Fluchtroute, auf der eine ganze Verbrechensindustrie darauf lauert, die Migrantenströme
unbarmherzig auszubeuten. An der Grenze zu Mali werden im Akkord gefälschte Pässe für teures Geld ausgestellt, deren sichtbarer Fake-charakter nur durch Schmiergeldzahlungen an den Zollbeamten kompensiert werden kann. Mit bunten Prospekten stehen die Schleuser an der Busstation und versprechen den Reisenden, sie durch die Sahara direkt bis nach Tripolis zu bringen.
Zu Dutzenden drängen sich dann die Migranten auf der Ladefläche eines Pick-ups. Wer sich nicht festhält und herunterfällt, wird in der Wüste wie ein verlorenes Paket zurückgelassen. Der Wagen hält genauso wenig an wie der Beduinenführer, der die Gruppe der Flüchtlinge durch die unendliche Weite der Dünenlandschaft
leitet. Am nördlichen Rand der Sahara warten schon die Milizen der libyschen Mafia, die ihnen nicht nur alles Geld abnehmen, sondern sie als Geiseln in Gefängnissen foltern, bis sie die Telefonnummern ihrer Familien preisgeben, die 200 Dollar für ihre Freilassung überweisen sollen. Wer keine Telefonnummer hat, wird als Sklave verkauft. Seydou überlebt nur, weil ein älterer Mann ihn unter seine Fittiche nimmt, mit dem er bei einem Großgrundbesitzer als Maurer für seine Freilassung schuftet.
Immer wieder setzt Garrone solche Momente von Solidarität und Mitgefühl unter den Flüchtlingen gegen die Bilder von brutaler Unmenschlichkeit. Wo die Wirklichkeit
zu unbarmherzig ist, hilft deren Überwindung durch magischen Realismus. Wenn Seydou einer Greisin, die in der Wüste kollabiert, nicht helfen kann, sieht er in seinen Halluzinationen, wie die Erschöpfte zu neuer Kraft findet und an seiner Hand über die Wüste schwebt.
Die Fantasie wird für Seydou – und auch fürs Publikum – zum Überlebenselixier. In Tripolis angekommen, warten Tausende auf eine Überfahrt nach Europa. Ganze Viertel mit improvisierten Behausungen säumen die Zufahrtsstraßen. Schließlich findet Seydou eine Möglichkeit zur Überfahrt. Allerdings muss er dafür das voll besetzte Flüchtlingsboot selbst über das Mittelmeer manövrieren.
Garrone hat die Erzählungen verschiedener Geflüchteter in sein Drehbuch einfließen lassen. Aber dessen Kern beruht auf der Geschichte eines 15-Jährigen, der ein überfülltes Boot von Libyen nach Sizilien lenkte, ohne dass einer seiner Passagiere ums Leben kam. Der junge Seydou Sarr spielt die seelische Entwicklung dieses Capitanos auf tief berührende Weise aus. In all seiner jugendlichen Euphorie und Zerbrechlichkeit nimmt er das Publikum mit auf eine Reise, die in die Abgründe menschlicher Unbarmherzigkeit und wieder heraus führt. Dabei gelingt es Garrone gerade durch die unbedingte Nähe zu seinem Protagonisten eine emotionale Balance, die weder beschönigt noch in die Elendspornografie führt.
Mit „Ich Capitano“ist ihm ein bewegendes Kinowerk über eines der brennendsten Sujets unserer Zeit gelungen, das weit weg vom bloßen Themenfilm durch seine emotionale, künstlerische und visuelle Reichhaltigkeit überzeugt.
„Ich Capitano“,
haben sich für den Tag der aktiven Gegenwehr entschieden, nicht für den Tag ihrer Befreiung von außen.
Was sagt das über unsere Wahrnehmung aus, über unsere Zuschreibung von Juden?
Na ja, es geht darum, dass Juden nicht nur Opfer sind und als Opfer gesehen werden wollen. Niemand ist nur Opfer und nur Täter. In den vergangenen Jahrzehnten ist im Bildungsbereich hierzulande einfach viel schief gelaufen, indem man auf die Juden immer nur als Opfer des Holocaust verwiesen hat – ohne die Realität und die Gegenwart jüdischen Lebens wenigstens wahrzunehmen und dagegenzusetzen. Jeder denkt, wenn er das Wort Jude hört, nur an sechs Millionen Tote! Ich frage Sie: Wer will so durchs Leben
gehen? Immer nur als eine Leiche auf dem Leichenberg betrachtet zu werden! Ich jedenfalls nicht. Gelegentlich lasse ich darum auch bei meinen Lesungen das gesamte Publikum zehn Mal das Wort „Jude“laut sagen, um ein wenig Normalität zu demonstrieren. Natürlich muss an den Massenmord erinnert werden, aber es muss auch darüber hinausgehen können.
Was waren die Gründe für Ihre Entscheidung, zum Judentum übertreten?
Das stimmt so nicht ganz, weil es sich in meinem Fall um eine institutionelle Statusanerkennung handelt. Im jüdischen Gesetz steht: Ein Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat. Ich bin aber als Tochter einer nichtjüdischen Mutter und eines jüdischen Vaters in Ostdeutschland aufgewachsen. Wie bei den meisten sogenannten Ddr-juden wurde das Judentum nicht traditionell gelebt. Wenn ich mich als Jüdin definiere, dann muss ich auch das jüdische Gesetz anerkennen. Dementsprechend muss ich einen Prozess durchlaufen und vor dem Rabbinatsgericht das jüdische Gesetz anerkennen. Es war in meinem Fall also keine klassische Konversion, sondern eine jüdische Anerkennung.
Ihr Buch war vor dem Überfall der Hamas-terroristen fertig. Erschienen ist es erst danach. Haben Sie es noch einmal überarbeitet?
Nein, ich habe das Buch zumindest nicht umgeschrieben, sondern habe es an einigen Stellen lediglich geringfügig ergänzt. So sind nach dem 7. Oktober etliche zivilgesellschaftliche Initiativen entstanden. Denn man muss wissen: In Israel gibt es eine schwache Regierung, aber eine starke Gesellschaft. In diesem eigenverantwortlichen Handeln spiegelt sich der messianische Aktivismus. Nach dem Glauben der Juden ist der Messias noch nicht erschienen, sondern wird aus den eigenen Reihen kommen.
Danach könnte der Messias schon unter uns sein?
Genau, Sie könnten aktuell gerade vor ihm sitzen. Das ist allerdings auch ein Running Gag unter den Juden – nach dem Motto: Na, vielleicht bist du es ja. Dieser Glaube verändert aber eine Gesellschaft, aber auch die individuelle Beziehung zum anderen und zu mir selbst. Weil jeder es sein kann, der die Gesellschaft in einen besseren Zustand führen kann, oder zur Erlösung, was immer das auch bedeuten mag.