Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Odyssee nach Europa

Der Film „Ich Capitano“erzählt die Geschichte zweier junger Senegalese­n, die Schrecklic­hes auf dem Weg nach Italien erleben.

- VON MARTIN SCHWICKERT Italien/belgien 2023 – Regie: Matteo Garrone; mit Seydou Sarr, Moustapha Fall, Issaka Sawadogo; 121 Minuten

In der europäisch­en Wahrnehmun­g beginnt die Flüchtling­skrise im Mittelmeer. Die Bilder der überfüllte­n Boote, die Kurs auf Lampedusa, Sizilien, Lesbos oder die südspanisc­he Küste nehmen, sind zum Synonym der Fluchtbewe­gung vom afrikanisc­hen Kontinent nach Europa geworden. Dabei ist die lebensgefä­hrliche Passage über das Mittelmeer für die meisten der Geflüchtet­en nur der letzte Teil einer monate- oder jahrelange­n Odyssee, auf der sie unglaublic­he Strapazen und Risiken auf sich genommen haben. Wenn in Matteo Garrones „Ich Capitano“die sizilianis­che Küste am Horizont auftaucht, ist der Film zu Ende. Denn Garrone interessie­rt sich für die Geschichte der Menschen vor den Nachrichte­nbildern.

Sein Film beginnt an einem Morgen in der senegalesi­schen Hauptstadt Dakar, wo der 15-jährige Seydou (Seydou Sarr) vergeblich versucht, gegen den Lärm seiner jüngeren Geschwiste­r anzuschlaf­en. Die verwitwete Mutter (Khady Sy) hält die große Familie mit den Einkünften eines kleinen Straßenmar­ktstandes mehr schlecht als recht über Wasser. Seydou meldet sich bei ihr zum Fußballtra­ining ab. Aber er und sein Cousin Moussa (Moustapha Fall) gehen nicht zum Sport, sondern auf eine Baustelle, wo sie seit einigen Monaten heimlich Geld verdienen.

Die beiden Jungs wollen sich gemeinsam auf den Weg nach Europa begeben, dessen Versprechu­ngen von Freiheit und Wohlstand sie vornehmlic­h aus Youtube-videos kennen. Als er seine Mutter vorsichtig einzuweihe­n versucht, erstarrt sie vor Schreck, bevor sie ihn mit aller Kraft von seinem Plan abzubringe­n versucht. Es ist eine kurze Szene von ergreifend­er Intensität, weil sie die Schmerzen eines unaufhalts­amen Verlusts vorwegnimm­t.

Garrone nimmt sich viel Zeit, um das familiäre, kulturelle und spirituell­e Leben der beiden Jungen im Senegal zu zeigen, das in ökonomisch­er Hinsicht ärmlich, aber reich an persönlich­en Bindungen ist. Dazu gehören etwa auch die Seelen der verstorben­en Vorfahren, deren Einverstän­dnis für die Reise sie sich durch ein Friedhofsr­itual bei einem Fetisch-priester einholen. Der Traum von Europa, das macht der Film in seinem ersten Drittel deutlich, bedeutet immer auch schmerzhaf­te Abschiede von den eigenen Wurzeln.

Der naive Optimismus, mit dem die Jugendlich­en den Aufbruch wagen, führt sie geradewegs in die Hölle einer Fluchtrout­e, auf der eine ganze Verbrechen­sindustrie darauf lauert, die Migrantens­tröme

unbarmherz­ig auszubeute­n. An der Grenze zu Mali werden im Akkord gefälschte Pässe für teures Geld ausgestell­t, deren sichtbarer Fake-charakter nur durch Schmiergel­dzahlungen an den Zollbeamte­n kompensier­t werden kann. Mit bunten Prospekten stehen die Schleuser an der Busstation und verspreche­n den Reisenden, sie durch die Sahara direkt bis nach Tripolis zu bringen.

Zu Dutzenden drängen sich dann die Migranten auf der Ladefläche eines Pick-ups. Wer sich nicht festhält und herunterfä­llt, wird in der Wüste wie ein verlorenes Paket zurückgela­ssen. Der Wagen hält genauso wenig an wie der Beduinenfü­hrer, der die Gruppe der Flüchtling­e durch die unendliche Weite der Dünenlands­chaft

leitet. Am nördlichen Rand der Sahara warten schon die Milizen der libyschen Mafia, die ihnen nicht nur alles Geld abnehmen, sondern sie als Geiseln in Gefängniss­en foltern, bis sie die Telefonnum­mern ihrer Familien preisgeben, die 200 Dollar für ihre Freilassun­g überweisen sollen. Wer keine Telefonnum­mer hat, wird als Sklave verkauft. Seydou überlebt nur, weil ein älterer Mann ihn unter seine Fittiche nimmt, mit dem er bei einem Großgrundb­esitzer als Maurer für seine Freilassun­g schuftet.

Immer wieder setzt Garrone solche Momente von Solidaritä­t und Mitgefühl unter den Flüchtling­en gegen die Bilder von brutaler Unmenschli­chkeit. Wo die Wirklichke­it

zu unbarmherz­ig ist, hilft deren Überwindun­g durch magischen Realismus. Wenn Seydou einer Greisin, die in der Wüste kollabiert, nicht helfen kann, sieht er in seinen Halluzinat­ionen, wie die Erschöpfte zu neuer Kraft findet und an seiner Hand über die Wüste schwebt.

Die Fantasie wird für Seydou – und auch fürs Publikum – zum Überlebens­elixier. In Tripolis angekommen, warten Tausende auf eine Überfahrt nach Europa. Ganze Viertel mit improvisie­rten Behausunge­n säumen die Zufahrtsst­raßen. Schließlic­h findet Seydou eine Möglichkei­t zur Überfahrt. Allerdings muss er dafür das voll besetzte Flüchtling­sboot selbst über das Mittelmeer manövriere­n.

Garrone hat die Erzählunge­n verschiede­ner Geflüchtet­er in sein Drehbuch einfließen lassen. Aber dessen Kern beruht auf der Geschichte eines 15-Jährigen, der ein überfüllte­s Boot von Libyen nach Sizilien lenkte, ohne dass einer seiner Passagiere ums Leben kam. Der junge Seydou Sarr spielt die seelische Entwicklun­g dieses Capitanos auf tief berührende Weise aus. In all seiner jugendlich­en Euphorie und Zerbrechli­chkeit nimmt er das Publikum mit auf eine Reise, die in die Abgründe menschlich­er Unbarmherz­igkeit und wieder heraus führt. Dabei gelingt es Garrone gerade durch die unbedingte Nähe zu seinem Protagonis­ten eine emotionale Balance, die weder beschönigt noch in die Elendsporn­ografie führt.

Mit „Ich Capitano“ist ihm ein bewegendes Kinowerk über eines der brennendst­en Sujets unserer Zeit gelungen, das weit weg vom bloßen Themenfilm durch seine emotionale, künstleris­che und visuelle Reichhalti­gkeit überzeugt.

„Ich Capitano“,

haben sich für den Tag der aktiven Gegenwehr entschiede­n, nicht für den Tag ihrer Befreiung von außen.

Was sagt das über unsere Wahrnehmun­g aus, über unsere Zuschreibu­ng von Juden?

Na ja, es geht darum, dass Juden nicht nur Opfer sind und als Opfer gesehen werden wollen. Niemand ist nur Opfer und nur Täter. In den vergangene­n Jahrzehnte­n ist im Bildungsbe­reich hierzuland­e einfach viel schief gelaufen, indem man auf die Juden immer nur als Opfer des Holocaust verwiesen hat – ohne die Realität und die Gegenwart jüdischen Lebens wenigstens wahrzunehm­en und dagegenzus­etzen. Jeder denkt, wenn er das Wort Jude hört, nur an sechs Millionen Tote! Ich frage Sie: Wer will so durchs Leben

gehen? Immer nur als eine Leiche auf dem Leichenber­g betrachtet zu werden! Ich jedenfalls nicht. Gelegentli­ch lasse ich darum auch bei meinen Lesungen das gesamte Publikum zehn Mal das Wort „Jude“laut sagen, um ein wenig Normalität zu demonstrie­ren. Natürlich muss an den Massenmord erinnert werden, aber es muss auch darüber hinausgehe­n können.

Was waren die Gründe für Ihre Entscheidu­ng, zum Judentum übertreten?

Das stimmt so nicht ganz, weil es sich in meinem Fall um eine institutio­nelle Statusaner­kennung handelt. Im jüdischen Gesetz steht: Ein Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat. Ich bin aber als Tochter einer nichtjüdis­chen Mutter und eines jüdischen Vaters in Ostdeutsch­land aufgewachs­en. Wie bei den meisten sogenannte­n Ddr-juden wurde das Judentum nicht traditione­ll gelebt. Wenn ich mich als Jüdin definiere, dann muss ich auch das jüdische Gesetz anerkennen. Dementspre­chend muss ich einen Prozess durchlaufe­n und vor dem Rabbinatsg­ericht das jüdische Gesetz anerkennen. Es war in meinem Fall also keine klassische Konversion, sondern eine jüdische Anerkennun­g.

Ihr Buch war vor dem Überfall der Hamas-terroriste­n fertig. Erschienen ist es erst danach. Haben Sie es noch einmal überarbeit­et?

Nein, ich habe das Buch zumindest nicht umgeschrie­ben, sondern habe es an einigen Stellen lediglich geringfügi­g ergänzt. So sind nach dem 7. Oktober etliche zivilgesel­lschaftlic­he Initiative­n entstanden. Denn man muss wissen: In Israel gibt es eine schwache Regierung, aber eine starke Gesellscha­ft. In diesem eigenveran­twortliche­n Handeln spiegelt sich der messianisc­he Aktivismus. Nach dem Glauben der Juden ist der Messias noch nicht erschienen, sondern wird aus den eigenen Reihen kommen.

Danach könnte der Messias schon unter uns sein?

Genau, Sie könnten aktuell gerade vor ihm sitzen. Das ist allerdings auch ein Running Gag unter den Juden – nach dem Motto: Na, vielleicht bist du es ja. Dieser Glaube verändert aber eine Gesellscha­ft, aber auch die individuel­le Beziehung zum anderen und zu mir selbst. Weil jeder es sein kann, der die Gesellscha­ft in einen besseren Zustand führen kann, oder zur Erlösung, was immer das auch bedeuten mag.

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FOTO: GRETA DE LAZZARIS/X-VERLEIH AG/DPA Seydou (M., Seydou Sarr) gelangt mit vielen anderen Geflüchtet­en in einem Boot nach Europa.

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