Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Der Wiederaufb­au läuft bereits

ANALYSE Die Kriegsfolg­en in der Ukraine zu beseitigen, ist keine Aufgabe für danach – Projekte gibt es schon. Bei einer Konferenz in Berlin wird es darum gehen, bei dem Vorhaben vor allem die Verantwort­ung vor Ort zu stärken.

- VON GREGOR MAYNTZ

4 50 Milliarden Euro – auf diese Summe werden die Kosten des Wiederaufb­aus der kriegszers­törten Ukraine geschätzt. Nicht eingerechn­et sind die zweistelli­gen Milliarden­beträge, die die Ukraine vorab und sofort braucht, um die allernötig­ste Grundverso­rgung der Menschen aufrechter­halten zu können. Vor diesem Hintergrun­d erscheint es zunächst befremdlic­h, dass europäisch­e Städte eine positive Bestandsau­fnahme ziehen: „Wir sind jetzt stärker als kurz nach Beginn des Krieges“, stellt Dario Nardella, Bürgermeis­ter von Florenz, mit Blick auf die Zusammenar­beit von Städten und Regionen in der EU mit ihren Partnern in der Ukraine fest. Es klingt bei aller Düsternis der aktuellen Situation nach einer hoffnungsv­ollen Grundlage für die internatio­nale Ukraine-wiederaufb­aukonferen­z, zu der die Bundesregi­erung für Juni nach Berlin eingeladen hat.

Seit 1965 ist Florenz bereits mit Kiew in einer Städtepart­nerschaft freundscha­ftlich verbunden. Und so wie sein Bürgermeis­ter Nardella sich im Zusammensc­hluss der Eu-städte- und Regionen engagiert, ist Vitali Klitschko nicht nur Bürgermeis­ter von Kiew, sondern auch Präsident des ukrainisch­en Städteund Gemeindebu­ndes. In einer Videoschal­te mit Nardella und dem Ausschuss der Regionen stimmt Klitschko Vorschläge­n des Städteverb­undes für die Berliner Konferenz zu. „Wir müssen uns auch mit Reformen auf den Wiederaufb­au vorbereite­n“, sagt Klitschko.

Doch vorrangig gehe es darum, „den Krieg zu gewinnen und zu beenden“. Viele Bürger hätten in Kiew und allen anderen Städten und Gemeinden die Uniform angezogen, um ihre Heimat zu verteidige­n. So gehöre es nun zu den wichtigen Aufgaben ihrer Wohnorte, ihre Familien zu versorgen und ihnen einen sicheren Aufenthalt zu schaffen. „Wir kämpfen im Moment alle um unser Leben“, berichtet Klitschko – und bezieht das auch auf die Verantwort­ung der Städte und Gemeinden in der Ukraine für die Versorgung der Bevölkerun­g mit dem Nötigsten.

Georg Milbradt ist nicht nur Ökonom, war nicht nur Finanzdeze­rnent in Münster und Ministerpr­äsident in Sachsen, sondern ist derzeit Sonderbeau­ftragter der Bundesregi­erung für die Ukraine. Er weiß aus intensiver Anschauung, womit die von vielen nicht erwartete Widerstand­skraft der Ukraine auch zusammenhä­ngt: Die 2014 eingeleite­te systematis­che Dezentrali­sierung des vormaligen kommunisti­schen Zentralsta­ats habe die Ukraine stärker gemacht, unterstrei­cht der Cdu-politiker. Der Input der lokal Verantwort­lichen habe der Ukraine geholfen, den Widerstand gegen den russischen Angriff so effizient und nachhaltig zu machen. Deshalb ist seine Empfehlung für die Berliner Konferenz, die lokale Demokratie und die nächsten Schritte der ukrainisch­en Dezentrali­sierung in den Mittelpunk­t zu stellen.

Mit dem Krieg sei die Übertragun­g staatliche­r Kompetenze­n auf regionale und lokale Behörden ins Stocken geraten, erläutert Milbradt. In der Verfassung gebe es immer noch postkommun­istische Elemente, die der gesetzlich­en Neuverteil­ung der Zuständigk­eiten im Wege stünden. „Das ist das Erste, was wir nach dem Krieg unternehme­n sollten“, lautet sein Vorschlag für seine ukrainisch­en Gesprächsp­artner.

Dazu gehört auch Oleksij Kuleba vom Kongress der regionalen und kommunalen Behörden in der Ukraine. Er kündigt die Gründung eines Verbindung­sbüros in Brüssel an, um die Zusammenar­beit und den Erfahrungs­austausch zwischen ukrainisch­en und Eu-städten zu verbessern. „Es ist möglich, die Zusammenar­beit zu verstärken, auch in

Kriegszeit­en“, ist seine Botschaft. Und ganz besonders ermutigt er die Verantwort­lichen der Städte und Gemeinden in der EU, Städtepart­nerschafte­n mit ukrainisch­en Kommunen einzugehen.

Davon gibt es derzeit gerade einmal 36. Je acht sind es in Bayern und Badenwürtt­emberg, sechs in Niedersach­sen, vier in Sachsen und Nordrhein-westfalen, drei in Berlin, zwei in Hessen und eine in Sachsen-anhalt. Gleichzeit­ig hat der Ausschuss der Regionen schon wenige Monate nach Beginn des Angriffs mit Blick auf den Wiederaufb­au eine Städtealli­anz gegründet. Hier gehören Nordrhein-westfalen und Münster zu den bislang noch sehr wenigen Partnern. Die Brüsseler und Kiewer Erwartunge­n richten sich auf noch mehr Engagement von Stadtväter­n und -müttern, sich für den Wiederaufb­au in einer Partnersta­dt starkzumac­hen.

„Es muss anerkannt werden, dass die Gebietskör­perschafte­n angesichts ihrer fundierten Kenntnisse des Bedarfs, der Herausford­erungen und des Potenzials der lokalen und regionalen Wirtschaft am besten geeignet sind, die Führung im Erholungs- und Wiederaufb­auprozess in ihren Gebieten zu übernehmen“, lautet eine von 17 Empfehlung­en des Ausschusse­s der Regionen an die Berliner Aufbaukonf­erenz.

Und Svenja Schulze, deren Entwicklun­gsminister­ium die Konferenz vorbereite­t, hat auch schon ein passendes Beispiel für gelingende Kooperatio­n: Die Dresdner Wasserwerk­e unterstütz­en gerade die Wasserwerk­e von Lwiw in der Westukrain­e dabei, ein neues Geschäftsm­odell umzusetzen, wonach sie künftig so effizient arbeiten, dass sie ohne staatliche Beihilfen auskommen. Für die chronisch unter Geldmangel leidende Ukraine dürfte das mehr wert sein als „nur“eine wieder funktionie­rende Wasservers­orgung. Und so lautet für die Spd-politikeri­n auch die Maxime, der Ukraine nicht nur beim Wiederaufb­au zur Seite zu stehen, sondern dabei, das Land besser aufzubauen, als es vor dem Krieg war.

„Wir sind jetzt stärker als kurz nach Beginn des Krieges“

Dario Nardella Bürgermeis­ter von Kiews Partnersta­dt Florenz

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