Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Außer Kontrolle
Das Chaos in Haiti ist groß, nachdem Interimspräsident Ariel Henry zurückgetreten ist. Der Karibikstaat steht nun vor der Auflösung – oder einem Neuanfang.
Der Mann, der den Machtkampf gewonnen hat, zeigt sich gerne mit Maschinengewehr und Barett-mütze. Jimmy „Barbecue“Cherizier ist der prominenteste Bandenchef in Haiti. Der 46-Jährige war – so melden es lokale Medien – einst ein Offizier der haitianischen Nationalpolizei. Die Vereinten Nationen werfen ihm vor, an mehreren Massakern beteiligt gewesen zu sein. Darunter an einer besonders erschütternden Gräueltat, bei der im Jahr 2018 mehr als 70 Menschen starben, als mehr als 400 Häuser im Viertel La Saline in der Hauptstadt Port-au-prince niedergebrannt wurden. Um seinen Spitznamen „Barbecue“ranken sich verschiedene Legenden. Eine davon ist, dass Cherizier seine Rivalen und Gegner gerne abfackelt, doch dieser Version widersprach der Bandenchef in der Vergangenheit. Stattdessen soll der Spitzname wegen seiner Liebe zu Grillhähnchen am Verkaufsstand seiner Mutter entstanden sein.
Mit dem Rücktritt von Haitis umstrittenem Interimspräsident Ariel Henry hat „Barbecue“den Machtkampf gegen den Rechtsstaat, der längst keiner mehr war, gewonnen. Das Land ist nun führungslos, eine Übergangsregelung soll dafür sorgen, dass bald ein neuer Interimspräsident benannt wird, der Neuwahlen organisieren soll. Die waren ohnehin überfällig, seit 2021 der bis dato regierende Staatspräsident Jovenel Moïse ermordet wurde. Der Anschlag ist bis heute nicht aufgeklärt. Kolumbianische Söldner sollen involviert gewesen sein.
Wenn sich der Übergangsrat auf einen neuen Interimspräsidenten geeinigt hat, soll eine internationale Polizeimission, vor allem besetzt mit Sicherheitskräften aus Kenia, das Land wieder stabilisieren. So ist zumindest der Plan. Aus Kenia heißt es dazu: Man werde erst dann eine Mission entsenden, wenn es eine Regierung gibt. Doch auch dagegen hat „Barbecue“etwas einzuwenden. Alles, was dem Ausbau seiner Macht und seinem Einfluss entgegensteht, bekämpft der Bandenchef mit brutaler Gewalt. Laut lokalen Menschrechtsorganisationen kontrollieren die illegal bewaffneten Banden 80 Prozent des Stadtgebietes von Port-au-prince.
„Barbecue“sagt, wenn sich sexuelle Übergriffe und der Ausbruch der tödlichen Cholera wie in der Vergangenheit wiederholen würden, dann „werden wir bis zu unserem letzten Atemzug dagegen kämpfen“. Es werde dann ein Kampf des haitianischen Volkes sein, um die Würde des Landes zu retten. „Barbecue“spielt damit auf ein dunkles Kapitel an: 2010 grassierte eine Choleraepidemie in Haiti. Epidemiologen gehen mehrheitlich davon aus, dass die Krankheit durch nepalesische Un-soldaten ins Land eingeschleppt wurde. 2018 ist es im Karibikstaat zu sexueller Ausbeutung durch Ngo-mitarbeiter gekommen, die offenbar Sex gegen Hilfe erpresst haben.
„Haiti ist kein gescheiterter Staat, sondern ein Mafiastaat“, sagt Soraya Jurado, Haiti-referentin des kirchlichen Lateinamerika-hilfswerks Adveniat. Die Rede vom „Failed State“würden sich die kriminellen Banden zunutze machen, um das Land zu destabilisieren, die Macht insbesondere in der Hauptstadt Portau-prince weiter an sich zu reißen und die Bevölkerung auszuplündern. „Hinter den Banden stecken wohlhabende, einflussreiche, international vernetzte Familien. Das erklärt auch, warum die Kriminellen besser ausgestattet sind als Polizei und Militär und sich die Gunst der Menschen in einzelnen Viertel mit Lebensmittelpaketen sowie Geschenken sichern können“, sagt Jurado. Ohne ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft sei ein Ende der Gewalt und der Machtkämpfe nicht abzusehen.
Gelegentlich gibt es einige wenige, die sich dieser Gewalt entgegenstellen. Dazu zählt die katholische Kirche, die nun selbst das Ziel von Anschlägen und Entführungen wird. Als Bischof Pierre-andré Dumas vor wenigen Wochen Port-au-prince besuchte, explodierte in der Nähe ein Sprengsatz. Der Bischof wurde schwer verletzt, überlebte aber. Dumas hatte in der Vergangenheit die von den Banden praktizierten Entführungen als „abscheulichen und barbarischen Akt“verurteilt und forderte bei mehreren Gelegenheiten ein Ende „dieser verabscheuungswürdigen und kriminellen Praktiken“. Seine Amtskollegen berichteten: „Seit vier Jahren erlebt unser Land eine der längsten und tödlichsten sozio-politischen und sicherheitspolitischen Krisen seiner Geschichte. Das ganze Volk, das ganze Land ist zutiefst betroffen. Der Staat hat die Kontrolle über das Staatsgebiet verloren“, so die Bischöfe. Die Bevölkerung sei der „gnadenlosen Gewalt der Banden und ihrer Verbündeten“ausgeliefert. Die Banden betrachteten das als einen Angriff auf ihre Macht. Bischof Dumas bekam für seine Äußerungen einen Denkzettel verpasst – in Form einer Bombe.
Laut Un-angaben sind allein seit Anfang 2024 mehr als 1100 Menschen von den Banden getötet und fast 700 weitere verletzt worden Fast 13.000 Menschen wurden zwischen Januar 2022 und Anfang März 2024 von kriminellen Gruppen getötet, verletzt oder entführt. Tausende von Frauen und Kindern wurden Opfer sexueller Gewalt. Viele wurden anschließend weggeworfen wie Müll. Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist das wohl schlimmste Kapitel der Anarchie in Haiti. Mehr als 362.000 Menschen wurden innerhalb des Landes vertrieben. Viele Jungen und Mädchen gehen nicht zur Schule, und der Missbrauch von Kindern und die Rekrutierung durch kriminelle Gruppen nehmen zu. Dort gibt es – wenn auch auf Basis brutaler Gewalt – wenigstens eine Aufstiegsperspektive. Und so verschiebt sich die Macht jede Woche ein Stückchen mehr in Richtung Banden und weg vom Staat.
Zunächst einmal aber ist Stunde Null in Haiti. Ohne Regierung, ohne funktionierende Sicherheitskräfte, dafür mit Chaos und Anarchie. Guyanas Präsident Mohamed Irfaan Ali, zugleich amtierender Vorsitzender der Karibik-gemeinschaft namens Caricom, hatte nach einem Haiti-krisengipfel in Jamaika bestätigt: „Wir nehmen den Rücktritt von Premierminister Ariel Henry zur Kenntnis.“Da war Henry in Puerto Rico, weil die Banden den Flughafen attackiert hatten, um so seine Rückkehr zu verhindern. Kurz zuvor hatte er einen Abkommen in Kenia über die Hilfsmission abgeschlossen.
Ob es nun einen Neuanfang oder den endgültigen Zusammenbruch gibt, hängt auch davon ab, welche Arbeit die Vereinten Nationen und die vielen Nichtregierungsorganisationen in dem Land leisten. Nach dem verheerenden Erdbeben 2010 mit rund 250.000 Toten strömten unzählige NGOS ins Land und wollten Haiti wieder aufbauen. Oft ohne Zustimmung der Haitianer, was den Helfern den Ruf einbrachte, Besserwisser zu sein. Der damalige Un-generalsekretär Ban Ki-moon versprach vollmundig: „Wir müssen ein besseres Haiti schaffen, in dem nicht die meisten Menschen in Armut leben und keine Chance auf Bildung haben. Wir haben einen konkreten Plan für den Wiederaufbau, und dieser Plan trägt eine haitianische Handschrift.“Allein aus Deutschland flossen 200 Millionen Euro Entwicklungshilfe nach Haiti. Das große Versprechen blieb aber unerfüllt.
International war die Anteilnahme groß. George Clooney moderierte eine Spendengala in den USA, 60 Millionen Dollar kamen zusammen. Die Haitianer sollten wissen, dass der Rest der Welt sie nicht vergesse, hieß es damals aus Hollywood. Inzwischen schieben die USA Haitianer ab – trotz der katastrophalen Lage im Land.
Nathalye Cotrino, Krisen- und Konfliktforscherin bei Human Rights Watch, erklärt zur unsicheren Lage: „Angesichts der Tatsache, dass Haiti an der Schwelle zu noch größerem Chaos und Gewalt steht, ist es für regionale und internationale Partner dringender denn je, die Forderungen der Haitianer nach einer auf Rechten basierenden internationalen Reaktion zu unterstützen, die alle Aspekte der Krise berücksichtigt.“Dazu sollte eine internationale Unterstützungsmission gehören, die die Menschenrechte vollständig einhält, sowie die Bildung einer Übergangsregierung, die mit den Partnern zusammenarbeiten kann, um die grundlegende Sicherheit, eine demokratische Regierungsführung, den Zugang zu lebensnotwendigen Gütern und die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen.
Eine entscheidende Rolle kommt beim Neustart wohl erneut den Vereinten Nationen zu. „Die UN bräuchten in Haiti eigentlich einen Neuanfang, denn was die UN normalerweise in einem solchen Fall leisten, können wir humanitären Organisationen nicht kompensieren“, sagte der Mediziner Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen der „Welt“. Angesichts der katastrophalen humanitären Lage richten die UN nach eigenen Angaben eine Luftbrücke aus dem Nachbarland Dominikanische Republik ein. Diese Luftbrücke solle einen reibungslosen Fluss von Hilfsgütern und die Mobilität des Un-personals gewährleisten, heißt es in einer Mitteilung der zuständigen Un-mission auf der Plattform X. Zeigt der Plan erste Erfolge, wäre das ein Anfang für mehr Vertrauen.
Danach müsste es in dem Karibikstaat Neuwahlen geben – ein erster Schritt zu einer demokratischen Legitimation einer neuen Regierung. Denn seit Jahren wurden auf Haiti Wahlen immer wieder verschoben oder ausgesetzt. Das Vertrauen in die, die in den demokratischen Institutionen das Sagen haben, ist zerstört. Der Rest der Welt setzt sich derweil erst einmal ab. Die Amerikaner schicken die Marines, um die Us-botschaft zu sichern, Deutschlands Botschafter brachte sich gemeinsam mit Entsandten der Eu-delegation im Nachbarland Dominikanische Republik in Sicherheit. „Sie arbeiten bis auf Weiteres von dort aus“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes.
Fast die Hälfte der Bevölkerung, etwa 4,9 Millionen Menschen, habe nicht genug zu essen, um gesund zu überleben, hieß es zuletzt aus Un-kreisen. Haiti gilt ohnehin als das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Einst zahlte es den französischen Kolonialherren Millionen für die Unabhängigkeit. Haiti wurde zudem in den vergangenen Jahren von Naturkatastrophen wie Erdbeben und Wirbelstürmen erschüttert. All das ist der Nährboden, auf dem Menschen wie „Barbecue“ihre Banden auf- und ausbauen. Das wieder in den Griff zu bekommen, wird eine Herkulesaufgabe. Ein weiteres Scheitern darf sich der Rest der Welt nicht erlauben.