Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Meisterliches Duett
„Sterben“ist ein Drei-stunden-ritt durch die Wirklichkeit des Empfindens. Herzstück des Films: eine sensationelle Szene zweier Stars.
Es gibt eine Zeit im Leben, die man als Hot-dog-phase bezeichnen könnte. Man ist nicht mehr ganz jung, aber längst noch nicht alt, man liegt wie ein armes Würstchen zwischen den Generationen und weiß auch nicht so recht. In dieser Situation ist die Gefahr groß, aufgefressen und geschluckt zu werden. Zum Glück existiert eine Alternative. Sie kostet Kraft, aber es gibt sie: sich aus der Zwangslage befreien und fortan aufrecht dastehen als man selbst.
Von den Herausforderungen des mittleren Alters handelt Matthias Glasners tief trauriger, brüllend komischer und sympathisch ausufernder Film „Sterben“. Hoffentlich schreckt der Titel niemanden ab, denn zu sehen bekommt man keinen Tragik-exzess im Klinikzimmer, sondern eine pointierte Darstellung des Lebens in all seiner Absurdität. Und zudem die wahrhaftigsten und besten Dialoge in einer deutschen Produktion seit Langem.
Die Geschichte beginnt mit Lissy und Gerd Lunies in Norddeutschland. Sie ist todkrank und fast blind, er dement, und die gemeinsame Autofahrt zum Supermarkt vereint alle Stimmungslagen des Drehbuchs, das Seufzen und das Lachen: Der eine kann nicht mehr fahren, die andere darf nicht mehr fahren, und dann fahren halt beide ein bisschen, oje. Hauptfigur des Films ist Tom, ihr Sohn, er lebt als Dirigent eines Jugendorchesters in Berlin und probt das „Sterben“betitelte Stück des befreundeten Komponisten Bernard. Und dann gibt es noch Toms Schwester Ellen, die Zahnarzthelferin in Hamburg ist und sich nach Feierabend in Absturzkneipen die Kante gibt.
Matthias Glasner schrieb das Script, nachdem seine Eltern kurz nacheinander gestorben waren. Es handelt davon, wie jemand damit klarkommen muss, dass Vater und Mutter pflegebedürftig sind. Und dass er selbst nicht da ist, wo er an dieser Stelle seiner Biografie hätte sein wollen. Und dass er mit den Eltern nie über das gesprochen hat, was man bespricht, wenn man noch miteinander spricht. Und dass sein bester Freund lebensmüde ist. Und seine Ex-freundin ein Kind mit einem anderen bekommt. Alles ein bisschen too much. Wäre der Titel nicht längst vergeben, hätte „Sterben“auch „Reality Bites – Voll das Leben“heißen können.
Das Ensemble ist grandios, jede Persönlichkeit an ihrem je eigenen Platz perfekt. Alle tragen den Film gemeinsam. Dennoch ragen Corinna Harfouch und Lars Eidinger heraus. Der Höhepunkt der drei Stunden langen Handlung ist ein Gespräch zwischen ihnen am Kaffeetisch nach der Beerdigung des Vaters, die der Sohn verpasste. Sie habe ihn eigentlich nie gemocht, sagt die Mutter zum Sohn, er sei ein Schreikind gewesen. Und sie sei so froh, dass er normal und gesund sei, wo sie ihn doch damals fallengelassen habe. Oder geworfen, das wisse sie nicht mehr. Fallengelassen oder geworfen?, fragt Eidinger konsterniert. Fallengelassen, sagt Harfouch nach einer quälend langen Pause.
Eidinger bekommt es hin, dass das Publikum seiner Figur beim Denken zusehen kann. In der beinahe 20 Minuten langen Kaffeetafel-szene hört er, dass seine Film-mutter bald sterben wird. Aber die Nachricht dringt nicht in sein Bewusstsein. Vielmehr fragt sich Tom, was er nun denken soll und warum er nicht denkt, was man in diesem Moment denken müsste. Er fragt sich, warum er keinen Schmerz fühlt und warum er darüber nachdenkt, dass es nicht schmerzt. Und was mit ihm nicht stimmt, wenn er statt emotional zu reagieren über seine Verblüffung darüber nachdenkt, dass er so kühl bleibt. An dieser Stelle ist der Wahrheitsgehalt des Gespielten so hoch, dass es wehtut.
„Sterben“ist auch ein Film übers Erwachsenwerden. Die Gegenwart scheuert mit hartem Schwamm jeden Rest von kindlicher Arglosigkeit aus Toms Leben. Seine Heldenreise wird darin bestehen, mit Mitte 40 den Status als Sohn aufzugeben. Er wird zu einem empathischen Menschen reifen und die anderen aus ihrem eigenen Recht heraus begreifen. Er wird lernen, sich selbst beiseitezuschieben. Auch das gelingt Eidinger: Tom wachsen zu lassen.
Gerade als es für das Publikum am intensivsten ist, dreht Matthias Glasner die Gefühlheizung auf und macht es wärmer. Da sieht man also Toms Schwester Ellen, die sich gestern Abend mal wieder weggesprengt hat, bei einer Zahnbehandlung einpofen und mit dem verkaterten Kopf leider auf den Bohrer des Zahnarztes fallen. „Ich glaube, ich brauch jetzt doch mal eine Spritze“, stöhnt die Patientin. Als der Film auf der Berlinale zu sehen gewesen ist, kritisierten manche diese Slapstick- und Screwball-elemente, den Tempo- und Timingwechsel. Aber gerade sie reichern die Produktion an, sie verweisen auf die steinalte Weisheit, dass jede Komödie im Kern eine Tragödie ist und umgekehrt. Außerdem sind sie einfach lustig.
„Sterben“: Der Titel verspricht nichts Falsches, in diesem Film wird gestorben, mehrere Menschen und ein Kirschkuchen überleben nicht. Es gibt aber auch eine Geburt. Und mindestens eine Person, die am Ende sozusagen wie neugeboren dasteht: ein Kerl, der früher ein armes Würstchen gewesen sein mag, eingeklemmt zwischen denen, die abtreten, und denen, die kommen. Einer, der Schmerz erfuhr und den Mut hatte, in den Spiegel zu schauen, um sich selbst zu erkennen. „Sterben“beschreibt eine Heldenreise. Eine, die irgendwann jedem bevorsteht.
Gerade als es am intensivsten ist, dreht Matthias Glasner die Gefühlheizung auf