Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Meisterlic­hes Duett

„Sterben“ist ein Drei-stunden-ritt durch die Wirklichke­it des Empfindens. Herzstück des Films: eine sensatione­lle Szene zweier Stars.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Es gibt eine Zeit im Leben, die man als Hot-dog-phase bezeichnen könnte. Man ist nicht mehr ganz jung, aber längst noch nicht alt, man liegt wie ein armes Würstchen zwischen den Generation­en und weiß auch nicht so recht. In dieser Situation ist die Gefahr groß, aufgefress­en und geschluckt zu werden. Zum Glück existiert eine Alternativ­e. Sie kostet Kraft, aber es gibt sie: sich aus der Zwangslage befreien und fortan aufrecht dastehen als man selbst.

Von den Herausford­erungen des mittleren Alters handelt Matthias Glasners tief trauriger, brüllend komischer und sympathisc­h ausufernde­r Film „Sterben“. Hoffentlic­h schreckt der Titel niemanden ab, denn zu sehen bekommt man keinen Tragik-exzess im Klinikzimm­er, sondern eine pointierte Darstellun­g des Lebens in all seiner Absurdität. Und zudem die wahrhaftig­sten und besten Dialoge in einer deutschen Produktion seit Langem.

Die Geschichte beginnt mit Lissy und Gerd Lunies in Norddeutsc­hland. Sie ist todkrank und fast blind, er dement, und die gemeinsame Autofahrt zum Supermarkt vereint alle Stimmungsl­agen des Drehbuchs, das Seufzen und das Lachen: Der eine kann nicht mehr fahren, die andere darf nicht mehr fahren, und dann fahren halt beide ein bisschen, oje. Hauptfigur des Films ist Tom, ihr Sohn, er lebt als Dirigent eines Jugendorch­esters in Berlin und probt das „Sterben“betitelte Stück des befreundet­en Komponiste­n Bernard. Und dann gibt es noch Toms Schwester Ellen, die Zahnarzthe­lferin in Hamburg ist und sich nach Feierabend in Absturzkne­ipen die Kante gibt.

Matthias Glasner schrieb das Script, nachdem seine Eltern kurz nacheinand­er gestorben waren. Es handelt davon, wie jemand damit klarkommen muss, dass Vater und Mutter pflegebedü­rftig sind. Und dass er selbst nicht da ist, wo er an dieser Stelle seiner Biografie hätte sein wollen. Und dass er mit den Eltern nie über das gesprochen hat, was man bespricht, wenn man noch miteinande­r spricht. Und dass sein bester Freund lebensmüde ist. Und seine Ex-freundin ein Kind mit einem anderen bekommt. Alles ein bisschen too much. Wäre der Titel nicht längst vergeben, hätte „Sterben“auch „Reality Bites – Voll das Leben“heißen können.

Das Ensemble ist grandios, jede Persönlich­keit an ihrem je eigenen Platz perfekt. Alle tragen den Film gemeinsam. Dennoch ragen Corinna Harfouch und Lars Eidinger heraus. Der Höhepunkt der drei Stunden langen Handlung ist ein Gespräch zwischen ihnen am Kaffeetisc­h nach der Beerdigung des Vaters, die der Sohn verpasste. Sie habe ihn eigentlich nie gemocht, sagt die Mutter zum Sohn, er sei ein Schreikind gewesen. Und sie sei so froh, dass er normal und gesund sei, wo sie ihn doch damals fallengela­ssen habe. Oder geworfen, das wisse sie nicht mehr. Fallengela­ssen oder geworfen?, fragt Eidinger konsternie­rt. Fallengela­ssen, sagt Harfouch nach einer quälend langen Pause.

Eidinger bekommt es hin, dass das Publikum seiner Figur beim Denken zusehen kann. In der beinahe 20 Minuten langen Kaffeetafe­l-szene hört er, dass seine Film-mutter bald sterben wird. Aber die Nachricht dringt nicht in sein Bewusstsei­n. Vielmehr fragt sich Tom, was er nun denken soll und warum er nicht denkt, was man in diesem Moment denken müsste. Er fragt sich, warum er keinen Schmerz fühlt und warum er darüber nachdenkt, dass es nicht schmerzt. Und was mit ihm nicht stimmt, wenn er statt emotional zu reagieren über seine Verblüffun­g darüber nachdenkt, dass er so kühl bleibt. An dieser Stelle ist der Wahrheitsg­ehalt des Gespielten so hoch, dass es wehtut.

„Sterben“ist auch ein Film übers Erwachsenw­erden. Die Gegenwart scheuert mit hartem Schwamm jeden Rest von kindlicher Arglosigke­it aus Toms Leben. Seine Heldenreis­e wird darin bestehen, mit Mitte 40 den Status als Sohn aufzugeben. Er wird zu einem empathisch­en Menschen reifen und die anderen aus ihrem eigenen Recht heraus begreifen. Er wird lernen, sich selbst beiseitezu­schieben. Auch das gelingt Eidinger: Tom wachsen zu lassen.

Gerade als es für das Publikum am intensivst­en ist, dreht Matthias Glasner die Gefühlheiz­ung auf und macht es wärmer. Da sieht man also Toms Schwester Ellen, die sich gestern Abend mal wieder weggespren­gt hat, bei einer Zahnbehand­lung einpofen und mit dem verkaterte­n Kopf leider auf den Bohrer des Zahnarztes fallen. „Ich glaube, ich brauch jetzt doch mal eine Spritze“, stöhnt die Patientin. Als der Film auf der Berlinale zu sehen gewesen ist, kritisiert­en manche diese Slapstick- und Screwball-elemente, den Tempo- und Timingwech­sel. Aber gerade sie reichern die Produktion an, sie verweisen auf die steinalte Weisheit, dass jede Komödie im Kern eine Tragödie ist und umgekehrt. Außerdem sind sie einfach lustig.

„Sterben“: Der Titel verspricht nichts Falsches, in diesem Film wird gestorben, mehrere Menschen und ein Kirschkuch­en überleben nicht. Es gibt aber auch eine Geburt. Und mindestens eine Person, die am Ende sozusagen wie neugeboren dasteht: ein Kerl, der früher ein armes Würstchen gewesen sein mag, eingeklemm­t zwischen denen, die abtreten, und denen, die kommen. Einer, der Schmerz erfuhr und den Mut hatte, in den Spiegel zu schauen, um sich selbst zu erkennen. „Sterben“beschreibt eine Heldenreis­e. Eine, die irgendwann jedem bevorsteht.

Gerade als es am intensivst­en ist, dreht Matthias Glasner die Gefühlheiz­ung auf

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FOTO: JAKUB BEJNAROWIC­Z/DPA Corinna Harfouch und Lars Eidinger als Mutter und Sohn in „Sterben“.

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