Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Poetische Momente in der Verfassung
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes rangen um jedes Wort. Die Formulierungen haben oft eine literarische Note. Doch nicht alle Artikel bestechen durch Akkuratesse.
Immer wieder wehte ein besonderer Geist durch die Aula der Pädagogischen Akademie. Wenn die Scharfmacher nach erbitterten Debatten Pause hatten und Präsident Konrad Adenauer entspannter und mit rheinischem Humor durch die Sitzungen führte, konnte es zu echten Kabinettszenen kommen. Etwa, als der „Alte“seinen Gegenspieler, den „Herrn Professor“Carlo Schmid von der SPD, ironisch aufforderte: „Können Sie uns eine Sinndeutung dieses Gobelins geben?“
Gemeint war der riesige Wandteppich, den die Stadt Bonn ausgeliehen hatte, um der nüchternen Akademie-aula etwas staatstragenden Glanz zu verleihen. Das Thema des Gobelins stammt aus der griechischen Mythologie: „Raub der Europa“. Schmid ließ sich diese Chance, seinen Geist blitzen zu lassen, nicht nehmen, ließ Mythologie Mythologie sein und deutete den „Raub der Europa“um zu einer Metapher für die Gegenwart: „Die Steintreppe im Vordergrund ist der Aufgang zur Demokratie“, führte er aus, „sie zeigt den Weg an, den wir nach den Intentionen der Alliierten stufenweise beschreiten müssen.“Das rote Tuch vor dem Treppenaufgang interpretierte er als die SPD. Wer zur Demokratie hinstrebe, „wird an ihr nicht achtlos vorbei gehen können“. Schmid deutet weiter: Der Stab des Götterboten Merkur sei die FDP, die Kuh im Hintergrund die CDU, ein Dornenstrauch am Rande stehe für die KPD. Und am Firmament nimmt er ein Gewitter wahr, das vorübergezogen sei. „Die Blitze aus dem Kampfwagen des Kriegsgottes am Himmel sind erloschen“, doziert Schmid und weist die Szene den Alliierten zu. Beifall von allen Seiten.
Die Aula wird zur Arena der Schöngeister im Parlamentarischen Rat, denen es nicht nur gelang, in eloquenten Scharmützeln und harten politischen Debatten Artikel für Artikel des Grundgesetzes präzise und verständlich zu formulieren. Sie schafften es sogar, dem Grundgesetz hier und da eine literarische Note zu verpassen. Und das auch noch unter Zeitdruck. Gerade einmal sportliche neun Monate nahm sich die „Bonner Verfassungswerkstatt“(ein Begriff der Medienwissenschaftlerin Sabine Böhne-di Leo), um unter den argwöhnischen Augen der Westalliierten ein Werk in Worte zu gießen, das nicht weniger als die Fehler der Vergangenheit vermeiden sowie korrigieren und der jungen Bundesrepublik eine moralisch-juristische Struktur für die Zukunft geben sollte.
Dass mit diesem Grundgesetz nicht nur ein komplexes Regelwerk entstand, sondern auch ein Gesamtkunstwerk der Worte und prägnanten Formulierungen, hat etwa der Schriftsteller Navid Kermani bemerkt: „Überhaupt wird man die Wirkmächtigkeit, den schier unfassbaren Erfolg des Grundgesetzes nicht erklären können, ohne auch seine literarische Qualität zu würdigen. Jedenfalls in seinen wesentlichen Zügen und Aussagen ist es ein bemerkenswert schöner Text und sollte es sein“, sagte Kermani als Festredner der 2014 stattgefundenen Feierstunde zu „65 Jahre Grundgesetz“. Kermani sagt: „Im deutschen Sprachraum vielleicht nur mit der Luther-bibel vergleichbar, hat das Grundgesetz Wirklichkeit geschaffen durch die Kraft des Wortes.“
Gleich der Einstieg ins Grundgesetz offenbart Poesie pur, bemerkt Kermani: „Das Paradox gehört nicht zu den üblichen Ausdrucksmitteln juristischer Texte, die schließlich größtmögliche Klarheit anstreben“, sagt er, „einem Paradox ist notwendig der Rätselcharakter zu eigen, ja, es hat dort seinen Platz, wo Eindeutigkeit zur Lüge geriete. Deshalb ist es eines der gängigsten Mittel der Poesie.“Gemeint ist der Kernsatz der Verfassung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“Für Kermani ist diese Formulierung ein Paradox: „Denn wäre die Würde des Menschen unantastbar, wie es im ersten Satz heißt, müsste der Staat sie nicht achten und schon gar nicht schützen, wie es der zweite Satz verlangt.“Der zweite Satz lautet: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Kermani ist nicht der einzige Schriftsteller, der sich dem Artikel 1 des Grundgesetzes widmete. Auch die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller ist voll des Lobes für diese starke Formulierung. Müller bringt in ihrem Essay „Unsichtbares Gepäck“ihren ganzen biografischen Hintergrund aus Rumänien unter Ceausescu ein – und mündet in eine ergreifende Analyse dessen, was Diktatoren und Diktaturen bei Menschen anrichten, denen die Würde abgesprochen wird. „Die ewig schlechte Laune im Sozialismus kam auch vom Überdruss an sich selbst, an der Würdelosigkeit der eigenen Anpassung.“
Juristen haben andere Anforderungen an die Sprache: So lobte Meinhard Hilf die Sprache des Grundgesetzes als nüchtern, knapp, zeitlos und allgemein verständlich und vernahm keinen Anflug von Musikalität oder Poetizität, „der dem Grundgesetz eine höhere Ebene der Sensibilität eröffnet hätte“. Hilfs Kollege Wolfgang
Gabriele Britz Juristin
Graf Vitzthum befand, dieser Sprache habe „kein Dichter oder Metaphernschmied Flügel verliehen“. Vielleicht keine Metaphernschmiede, dafür aber „Philosophen, Sprachpsychologen und Stilisten“, waren laut Böhne-di Leo insbesondere bei der Ausführung der wichtigen Präambel aktiv. Allen voran Theodor Heuss. Man solle darin zum Beispiel nicht das Wort „Übergangszeit“verwenden, forderte er: „Mit dieser harten Fixierung verderben wir das Schwebende und
Dauernde, das in diesen Dingen sein muss.“Stattdessen wünschte sich Heuss eine gewisse „Magie des Wortes“. In der Präambel drin blieb die „Übergangszeit“trotzdem.
Die Juristin Gabriele Britz, 2011 bis 2023 Richterin am Bundesverfassungsgericht, schrieb über die Sprache des Grundgesetzes: „Sie muss so klar sein, dass die Begrenzung von Macht und die Gestaltungsaufträge an den Staat ihre Wirkung entfalten können.“Sie müsse verständlich sein: Nur eine verständliche Verfassung ermögliche die kritische Begleitung und Kontrolle staatlichen Handelns. Ferner müsse sie einnehmend und entwicklungsoffen sein. Das waren Prämissen, die sich auch die Mütter und Väter des Grundgesetzes zu Herzen nahmen.
Es herrschte aber trotzdem Redebedarf. Am 8. Oktober 1948 debattierte etwa der Ausschuss für Grundsatzfragen über das Für und Wider von kurzen Sätzen. Und Carlo Schmid machte sich auf zu einem Plädoyer für die Stilform des verschachtelten Satzes: „Ich möchte sagen, das ist die noblere und eigentlich humanere, weil sie die Möglichkeit gibt, einen Gedanken in all seinen Verästelungen in einem Satz zum Ausdruck zu bringen, und so jedem einzelnen Satze die Dignität eines selbstständigen gedanklichen Fortschritts zu geben.“Heuss hingegen neigte dazu, umständliche Formulierungen als „Saudeutsch“zu klassifizieren. Am Ende setzten sich die Verfechter einer präzisen, knappen Form durch.
Artikel 1 ist dafür ein gutes Beispiel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, findet sich in der Endfassung. Am 22. September hingegen diskutierte man noch über „Die Würde des Menschen ruht auf ewigen, einem Jeden von Natur aus eigenen Rechten. Das deutsche Volk erkennt sie erneut als Grundlage aller menschlichen Gemeinschaften an.“
Überall allerdings weist das Grundgesetz die sprachliche Akkuratesse der Mütter und Väter des Grundgesetzes dann doch nicht auf. Eine von vielen Formulierungen, denen eindeutig Heuss’ „Magie der Worte“fehlt, ist Artikel 135, Absatz 7: „Soweit über Vermögen, das einem Lande oder einer Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechtes nach den Ansätzen 1 bis 3 zufallen würde, von dem danach Berechtigten durch ein Landesgesetz, auf Grund eines Landesgesetzes oder in anderer Weise bei Inkrafttreten des Grundgesetzes verfügt worden war, gilt der Vermögensübergang als vor der Verfügung erfolgt.“
„Nur eine verständliche Verfassung ermöglicht die kritische Begleitung und Kontrolle staatlichen Handelns“