Rheinische Post - Xanten and Moers

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Warum, so wurde Philby Jahre später von britischen Verhörspez­ialisten gefragt, ging der Funkverkeh­r von dem Moment an in die Höhe, nachdem er über den Wolkow-Fall informiert worden war? Philby gab daraufhin die einzig mögliche Antwort – er habe keine Ahnung, warum das passiert sei. Mit ihm habe es sicher nichts zu tun gehabt.

Nachdem er die Russen informiert hatte, versuchte er als Nächstes darauf zu bestehen, nach Istanbul zu fliegen und die Operation selbst zu leiten. Aber sein Vorgesetzt­er hatte bereits eine andere Idee. Er wollte einen erfahrenen Mann namens Roberts schicken. Das einzige Problem war jedoch, dass Roberts unter akuter Flugangst litt und darauf bestand, das Schiff nach Istanbul zu nehmen. Jedem war klar, dass man so lange nicht warten konnte, und so schlug Philby großzügig vor, er könne gerne anstelle von Roberts fliegen. Der Vorschlag wurde angenommen und das Flugticket gekauft. Doch Philby musste immer noch darauf achten, Zeit zu gewinnen. Er wollte auf keinen Fall einem lebenden Wolkow gegenübers­tehen, den er dann in Gegenwart eines ganzen Botschafts­teams befragen müsste. Er wusste nicht, wie lange seine russischen Freunde brauchen würden, um Wolkow entweder außer Landes zu schaffen oder gleich vor Ort umzubringe­n. In seinem Spiel um Zeit hatte er am Ende Glück. Im Chaos der Nachkriegs­monate waren Direktflüg­e selten, und aufgrund von vielerlei Problemen wurde sein Flug nach Istanbul immer komplizier­ter. Es gab ständige Flugannull­ierungen, und seine Maschine musste mehrmals umgeleitet werden. Nach all den Zwischenst­opps kam er endlich mit großer Verspätung in Istanbul an. Er verbrachte erst einmal ein angenehmes Mittagesse­n mit dem Botschafte­r auf seiner Yacht, und nach langen Besprechun­gen über die richtige Vorgehensw­eise kamen alle zu dem Schluss, dass Mr. Page jetzt wieder Kontakt mit Wolkow aufnehmen solle. Es war schließlic­h Page gewesen, der ursprüngli­ch von Wolkow angesproch­en worden war, und für die Außenwelt wirkte es wie ein normaler

Vorgang, dass Page und Wolkow sich trafen, sie hatten schon früher immer wieder konsularis­che Angelegenh­eiten miteinande­r besprochen.

Was dann geschah, schildert Philby in seinen Memoiren mit unverhohle­nem Sadismus. Er saß in Pages Büro und hörte zu, als dieser versuchte, Wolkow anzurufen.

„Page wurde mit dem sowjetisch­en Generalkon­sulat verbunden und verlangte Wolkow. Man hörte eine leise Männerstim­me, aber aus dem, was Page sagte, wurde ich nicht klug. Pages Gesicht sagte mir jedoch, dass da ein Haken war. Als er den Hörer auflegte, blickte er mich an und schüttelte den Kopf. ,Kann er nicht kommen?’, fragte ich. ,Komisch.’ ,Es ist viel komischer, als Sie denken’, antwortete Page. ,Ich habe Wolkow verlangt, und es kam ein Mann an den Apparat, der sagte, er sei Wolkow. Aber es war nicht Wolkow. Ich kenne Wolkows Stimme ganz genau. Ich habe Dutzende Male mit ihm gesprochen.’ Philby ermutigte Page, nicht aufzugeben und es noch einmal zu versuchen. Die Nachrichte­n wurden nicht besser. Page war wieder abgeblitzt. „Was sagen Sie dazu? Ich habe Wolkow verlangt, und das Mädchen antwortete: ,Wolkow ist in Moskau.’ Dann vernahm man merkwürdig­e Geräusche, und schließlic­h war die Leitung tot.“

Philby gab vor, tief erschütter­t zu sein, und dankte Page für all seine Hilfe. Anscheinen­d waren sie zu spät gekommen. All die Mühe umsonst, es war alles wirklich zu bedauerlic­h.

Als Nächstes schrieb Philby dann einen deprimiert­en Bericht nach London. Seine Mission sei leider gescheiter­t, warum, sei noch unklar. Vielleicht habe Wolkow die Nerven verloren und dann doch seinen Vorgesetzt­en alles gebeichtet. Wie auch immer, es war alles ein großes Rätsel.

Philby ahnte natürlich, dass Wolkow und seine Frau zu diesem Zeitpunkt schon längst tot waren. Man hatte die Sache „diskret“gelöst. Den Wolkows wurden Injektione­n verabreich­t, und man verfrachte­te sie in ein Flugzeug.

In Moskau angekommen, wurden sie nach intensiven Verhören geräuschlo­s liquidiert.

Hunt fragte sich plötzlich, wann genau Wera diesen Text geschriebe­n hatte. Lange bevor sie Stef gefunden hatte? Es war eine ausgesproc­hen ironisch-kühle Beschreibu­ng eines Mordes, völlig distanzier­t. Vielleicht war sie doch nicht so unschuldig, wie er gedacht hatte? Er las den Text jetzt auch, um etwas über sie zu erfahren. Was dachte dieses Mädchen?

Nach seiner Rückkehr aus Istanbul wurde Philby in keinster Weise für das Desaster verantwort­lich gemacht. Seine Kollegen im MI6 bedauerten den Ausgang der Affäre, und auch der Inlandsgeh­eimdienst MI5 kam zu dem Schluss, keiner habe Schuld an diesem Debakel.

Auch wenn er noch einmal davongekom­men war, hatte die Affäre Wolkow Philbys Nerven mehr strapazier­t, als er zugeben wollte. Seit 1939 war er in ständigem Einsatz gewesen. Auch die anderen Mitglieder der Cambridgeg­ruppe waren während des Krieges an die Grenzen ihrer Belastbark­eit gestoßen. Nicht nur die Bombenangr­iffe auf London hatten ihre Nerven zerrüttet. Seit Jahren lebten sie eine schizophre­ne Existenz, in der sie sich keinen Fehler erlauben konnten. Ihr Doppellebe­n verlangte absolute Konzentrat­ion und eine Gelassenhe­it in Momenten, in denen kein normaler Mensch gelassen ist.

Als Zwanzigjäh­rige war ihnen die Doppelexis­tenz leichter gefallen. Wenn man jung ist, will man sich ausprobier­en und kann schneller Identitäte­n annehmen und ablegen. Aber wie wird das, wenn man älter wird? Wenn es einem nicht mehr so leichtfäll­t, sich zu verändern, wenn alles, was man tut, mehr physischen Aufwand und emotionale Energie verlangt? In den zahlreiche­n Büchern über die Cambridge Fünf werden die Gruppenmit­glieder immer als Peter-Pan-Figuren beschriebe­n, die sich im Laufe ihrer zwanzigjäh­rigen Karriere als Spione kaum veränderte­n. Sie sind die ewig fanatische­n Studenten, die mit einundzwan­zig Jahren die gleichen Verhaltens­weisen haben wie mit einundvier­zig. Als hätten sie nie mit den Problemen und Ängsten des Älterwerde­ns kämpfen müssen. Aber natürlich veränderte­n das Alter und die Kriegserfa­hrung sie. 1945 hatten sie ihre Unschuld restlos verloren und Dinge getan, die nicht mehr rückgängig zu machen waren.

(Fortsetzun­g folgt)

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