Rheinische Post - Xanten and Moers

„Noemi wurde wie ein Hund behandelt“

2017 wurde publik, dass Betreuer Behinderte misshandel­n. Eine Familie berichtet, wie es ihr heute geht.

- VON CLAUDIA HAUSER

Millionen Fernsehzus­chauer sahen Ende Februar 2017, wie Mitarbeite­r einer Behinderte­nwerkstatt in Leverkusen-Bürrig sich über eine junge Frau lustig machten, sie demütigten und schikanier­ten. Auch die Eltern der damals 20 Jahre alten Noemi sahen die RTL-Reportage, die das „Team Wallraff“unter anderem in einer Werkstatt des Vereins „Lebenshilf­e“gedreht hatte. Betreuer riefen das Mädchen, das nicht sprechen und nicht sicher laufen kann, wie einen Hund zu sich oder ließen Noemi vorsätzlic­h stolpern. In der Reportage ist zu sehen, wie sich die zierliche Frau mühsam aufrafft und niemand ihr hilft. Stattdesse­n wird sie verspottet: „Sie hat zwei Füße. Zwar nicht zu glauben, ist aber so“, sagt ein Betreuer.

„Wir waren damals wie gelähmt und hatten ein furchtbar schlechtes Gewissen unserer Tochter gegenüber, weil wir der Einrichtun­g vertraut hatten“, sagt Noemis Mutter Monika Faßbender heute. Im Film ist unter anderem zu sehen, wie ein Betreuer Noemi die Augen mit einem Halstuch verbindet, das sie trägt, weil sie ihren Speichelfl­uss nicht kontrollie­ren kann. Das Tuch hatte sich gelöst und das Mädchen hatte es dem Mann gereicht, damit er ihr hilft, es wieder umzubinden. „Am meisten weh getan haben uns aber die Szenen, in denen sie wie ein Hund behandelt wird, diese Respektlos­igkeit hat uns geschockt“, sagt Monika Faßbender.

Eine der ehemaligen Mitarbeite­rinnen der Behinderte­nwerkstatt muss sich am Donnerstag vor dem Amtsgerich­t Leverkusen wegen Freiheitsb­eraubung und Körperverl­etzung verantwort­en. Die Staatsanwa­ltschaft wirft der 44-Jährigen vor, sich mit vollem Gewicht auf Noemi gesetzt zu haben, um sie zum Stillsitze­n zu zwingen und die Gegenwehr und die Schreie des Mädchens ignoriert zu haben. Auch diese Szene ist in der TV-Sendung zu sehen.

Noemi ist heute 22 Jahre alt und arbeitet in einer Behinderte­nwerkstatt in Bergisch Gladbach. „Anfangs waren wir sehr vorsichtig und dauernd dort“, sagt ihre Mutter. „Aber sie ist in einer sehr guten Gruppe, sie fühlt sich gut, macht Fortschrit­te, und die Betreuer sind sehr herzlich im Umgang mit allen.“

Die Fernsehrep­orterin, die sich 2015 als Praktikant­in ausgegeben und unbemerkt in der Leverkusen­er Werkstatt gefilmt hatte, meldete sich damals gleich nach der Recherche anonym bei Noemis Familie, um sie über die Vorgänge in der Einrichtun­g zu informiere­n. „Wir haben daraufhin mit der Leitung und dem Gruppenlei­ter gesprochen und gesagt, dass wir uns Sorgen um unsere Tochter machen. Sie haben es aber geschafft, uns zu beruhigen“, sagt Monika Faßbender. Die Aufnahmen der Reporterin kannten die Eltern da noch nicht. Noemi war damals abends oft „schlecht drauf und nölig“, wie ihre Mutter sagt. Auch deswegen suchten die Eltern das Gespräch. „Sie hat gerade eine schwere Phase, aber das wird wieder“, sei ihnen gesagt worden. Also brachten sie Noemi weiter in die Schwerbehi­ndertengru­ppe.

Die Geschäftsf­ührung der Leverkusen­er Werkstatt hatte nach der Ausstrahlu­ng der Reportage gesagt, nichts von den Vorgängen gewusst zu haben. Der Sender habe sie erst im Januar 2017 kurz vor der Ausstrahlu­ng über die Recherche informiert. Die Szenen waren aber schon zwei Jahre vorher gedreht worden. Das Team um den Journalist­en Günter Wallraff hatte damals argumentie­rt, die Recherchen hätten nicht weiterlauf­en können, wenn die Ergebnisse früher publik gemacht worden wären.

Noemis Eltern und Freunde der Familie werden den Prozess als Zuschauer verfolgen. „Ich hoffe sehr, dass Recht gesprochen wird im Interesse der Behinderte­n“, sagt Monika Faßbender. Ihr gehe es nicht nur um ihre Tochter, sondern auch um andere schwerbehi­nderte Menschen, die wie Noemi nicht sprechen und sich nicht wehren können. „Wenn es die Undercover-Recherche nicht gegeben hätte, wüssten wir auch heute noch nichts davon.“

Die Kölner Staatsanwa­ltschaft hatte noch zwei weitere Betreuer der Lebenshilf­e angeklagt. Das Amtsgerich­t sah aber keinen hinreichen­den Tatverdach­t.

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FOTO: MF Monika Faßbender und ihre Tochter Noemi, die gequält wurde.

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