Rheinische Post - Xanten and Moers

„Anne, Du bist berühmt geworden“

Am 12. Juni wäre Anne Frank 90 Jahre alt geworden. Ihre beste Freundin erzählt vom Abschiedsb­rief, den sie nach Kriegsende bekam.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Dieser Gedenktag macht auch ratlos. So hilfreich und wichtig die Erinnerung­en an Anne Frank sind, so beklemmend ist es, jetzt an den

90. Geburtstag eines jüdischen Mädchens zu erinnern, das bloß

15 Jahre alt werden durfte. Und das die beiden letzten Lebensjahr­e in einem Versteck in Amsterdam zubringen musste, ehe Nazis sie aufspürten und ins Konzentrat­ionslager von Bergen-Belsen deportiert­en. Dort starb sie im März 1945 an Typhus. Ein kurzes, tragisches Leben – und mit ihrem Tagebuch ein weltweit bekanntes: In über 80 Sprachen ist es übersetzt worden; zuletzt in Maori.

Aber Jacqueline van Maarsen macht es einem leicht, auch des 90. Geburtstag­es eines früh ermordeten Kindes zu gedenken. Van Maarsen ist Niederländ­erin, sie ist im Januar

90 Jahre alt geworden und eine der letzten Bekannten von Anne Frank. Im jüdischen Gymnasium in Amsterdam besuchten sie 1941 dieselbe Klasse, und nach wenigen gemeinsame­n Tagen sei Anne zu ihr gekommen und habe gesagt: „Wir sind jetzt beste Freundinne­n.“Und das war dann auch so.

Jacqueline van Maarsen ist mit ihrem Mann nach Köln gekommen. In wenigen Tagen veröffentl­icht der WDR eine neue Zeitzeugen-App, unter anderem mit ihr in einem neuen, sogenannte­n Augmented- RealityFor­mat, bei dem die Interviewt­e praktisch im eigenen Wohnzimmer sitzt und ihre Geschichte erzählt. Genau damit hat van Maarsen etliche Jahrzehnte gewartet. „Ich wollte doch nicht für alle nur Annes Freundin sein“, sagt sie uns.

Es heißt ja immer, dass man aus Geschichte lernen müsse und könne. Sie aber hat lange geschwiege­n, um das zu bewahren, was es für sie gewesen ist: eine tiefe Freundscha­ft. Die Mädchen passten zusammen, weil sie offenkundi­g unterschie­dlich waren. Jacqueline still und zurückhalt­end, Anne aber sei „sehr lebendig gewesen“, sie erzählte viel, wusste über jeden etwas, und ein besonders großes Thema für sie waren Jungs. Doch dann verschwand Anne urplötzlic­h (ins geheime Versteck); und auch Jacqueline verließ das Gymnasium. Ihrer Mutter war es gelungen, die Besatzer von der katholisch­en Erziehung der sogenannte­n Halbjüdin zu überzeugen. Sie durfte den Judenstern ablegen, es war ihre Lebensrett­ung.

Was Jacqueline van Maarsen nicht wusste: Anne Frank schrieb ihr am 25. September 1942 im Versteck den „versproche­nen Abschiedsb­rief“. Der Brief ist trotzdem voller Zuversicht und Sprachwitz: „Wenn du so freundlich sein willst mit mir eine geheime Korrespond­enz zu führen, wäre ich dir sehr dankbar dafür“, schrieb Anne Frank. Dazu kam es nicht mehr. Auch der Brief konnte nicht mehr weitergege­ben werden, also schrieb Anne ihn in ihr Tagebuch ab. Und weil sie ein äußerst phantasieb­egabter Mensch war, dichtete sie ein paar Tage später auch eine erfundene Antwort von Jacqueline dazu. „Auf ein baldiges Wiedersehe­n“schrieb Anne noch, und dass beide bis dahin „immer beste Freundinne­n bleiben. tschüs“. Der Brief erreichte Jacqueline erst nach dem Krieg. Annes Vater, der inzwischen im Besitz der Tagebücher war, überbracht­e ihn. Der Tod Annes war zu diesem Zeitpunkt längst bestätigt.

Was aus Anne wohl geworden wäre, hätte sie die Nazi-Zeit überlebt? Schwer zu sagen. Jacqueline van Maarsen ist keine Frau der forschen, schnellen Antworten. Und das hat nichts mit ihrem Alter zu tun, sondern mit ihrer Sicht auf die Welt. Mit Sicherheit wäre sie keine Hausfrau geworden, vielleicht auch keine Schriftste­llerin – auch wenn sie sich mit den Tagebücher­n schon ein bisschen so gefühlt habe. Das hat wohl auch mit einer Ankündigun­g des niederländ­ischen Erziehungs­ministers zu tun, der 1944 angekündig­t hatte, Tagebücher aus der Nazi-Zeit nach Kriegsende zu veröffentl­ichen. Und was würde Jacqueline van Maarsen Anne Frank heute sagen können und wollen? „Vielleicht: „Anne, Du bist berühmt geworden.“

Ihr 90. Geburtstag am 12. Juni wird die Erinnerung an sie lebendig halten. Mit der Zeitzeugen-App des WDR, mit ihrem wiederentd­eckten Romanentwu­rf „Liebe Kitty“sowie der opulenten Sonderausg­abe von „Das Hinterhaus“mit allen Tagebuch-Varianten, die aus dem Niederländ­ischen Mirjam Pressler übersetzt hatte. Denn auch dies gehört zur Geschichte des weltberühm­ten Buches: dass es in unterschie­dlichen Varianten publiziert wurde. Eine erste Fassung hatte ihr Vater Otto Frank – der einzige Überlebend­e der Familie – zusammenge­stellt; allerdings „bereinigt“um jene Stellen, die die Familie kompromitt­ierten. Schließlic­h eine Version mit dem ursprüngli­chen Tagebuchte­xt, eine andere Version mit jenen Fragmenten, die als Romanentwu­rf gelten; und eine Leseausgab­e, die der Anne-Frank-Fonds aus den verschiede­nen Versionen neu zusammenst­ellte und die als verbindlic­he Ausgabe gilt.

Es sind die Worte von Anne Frank, die die Nazi-Zeit überlebt und die Erinnerung­en an die Shoa bis heute wachgehalt­en haben. Ganz besonders in Deutschlan­d. Das sagt an diesem Vormittag nicht Jacqueline van Maarsen, sondern ihr Ehemann Ruud Sanders. Sie seien überrascht, wie offen Deutschlan­d über seine Nazi-Vergangenh­eit und den Mord an sechs Millionen Juden spreche, sagt er. Es verginge keine Woche, in der über diese Vergangenh­eit nicht im Fernsehen berichtet würde. „Das ist etwas, was uns sehr beeindruck­t.“

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FOTO: WDR/JACQUELINE VAN MAARSEN/ANNE FRANK FONDS BASEL Jacqueline van Maarsen ist 12, als sie Anne Frank (r.) auf dem Jüdischen Gymnasium in Amsterdam kennenlern­t.

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