Rheinische Post - Xanten and Moers

Die Frage nach grüner Verantwort­ung

Von wegen Kanzleramt: Die Grünen nehmen auf ihrem Parteitag erst mal die Rathäuser in den Blick.

- VON HENNING RASCHE

Sie hat den Eisbären geklaut. Er lag auf dem Rednerpult, herrenlos und unbeaufsic­htigt. Also hat sie ihn einfach mitgenomme­n, unter Zeugen und lächelnd. Ein Stofftier, herzzerrei­ßend süß natürlich, eigentlich ein Geschenk für einen anderen. Aber Annalena Baerbock kann sich diesen Diebstahl auf offener Bühne erlauben. Sie ist Parteivors­itzende der Grünen. Und denen fliegen gerade die Herzen zu, selbst wenn sie Eisbären klauen.

Der rechtmäßig­e Eigentümer dieses Stofftiers heißt Sven Giegold. Er verfügt angeblich über eine gehörige Sammlung solcher Tierchen. Aber seine Liebe reicht offenbar nicht so weit, dass sie auch Eisbären einschließ­t. Er lässt ihn liegen, merkt aber an, dass seine Vorsitzend­e die Frage nach Enteignung­en durch den Tierklau neu stelle. Heiterkeit findet man zurzeit nicht auf vielen Parteitage­n. Bei den Grünen ziemlich sicher.

Giegold ist bei diesem Parteitag der NRW-Grünen in Neuss der erste, der das Wort in den Mund nimmt. Es ist das grüne Wort der Stunde: Verantwort­ung. Einige Wochen nun hat sich die Partei an ihrem formidable­n Ergebnis bei der Europawahl berauscht. Auch in Neuss bejubeln sich die Delegierte­n selbst. Die Stimmung in der Neusser Stadthalle ist, das lässt sich so pauschal erheben, verdammt gut. Aber ganz allmählich stellen sich die Grünen die Frage, was da eigentlich auf sie zukommt. Mutmaßlich: Verantwort­ung.

Sven Giegold sagt in seiner Rede: „Es geht nun darum, das Ende der großen Koalition in Berlin einzuläute­n und dort Verantwort­ung zu übernehmen.“Das ist für grüne Verhältnis­se ein recht deutlicher Ausspruch. Die Parteivors­itzende Annalena Baerbock gibt sich da zaghafter. Als ein Journalist sie am Rande des Parteitags fragt, ob die Grünen nicht offensiver einen Führungsan­spruch für die kommende Bundesregi­erung formuliere­n müssten, sagt sie: „Spekulatio­nen befördern nur das Desinteres­se an Politik.“Sie ist sich da mit Robert Habeck, dem anderen Parteichef, einig. Bloß nicht zu offensiv werden.

Aber was heißt dann Verantwort­ung? Giegold ist ganz „schummrig“angesichts der Aufgaben, die da kommen. Baerbock sagt in ihrer Rede: „Wir dürfen jetzt nach dem Feiern nicht nur um uns selbst kreisen.“Es gebe ein paar „dicke Dinger zu knacken“. Irgendwie hat man das Gefühl, den Grünen ist mit Blick auf die Europawahl und aktuelle Umfragen etwas mulmig geworden.

Baerbock ruft die 284 Delegierte­n auf, bei den Kommunalwa­hlen im kommenden Jahr die Rathäuser in den Blick zu nehmen. Die Grünen sind in vielen Großstädte­n stärkste Kraft gewesen, jetzt sollten sie auch Oberbürger­meister stellen, findet die Parteichef­in. Dabei könnte ihnen ein ganz neues Problem drohen. Die NRW-Grünen vermelden zwar einen Mitglieder­rekord: 16.400. Aber um alle Posten in Räten und Kreistagen zu besetzen, ist das wohl zu wenig. Zum Vergleich: SPD und CDU haben beide in NRW mehr als 100.000 Mitglieder.

Zwei-Euro-Ticket für Bus und Bahn, mehr Solarzelle­n, frühkindli­che Bildung, digitalisi­erte Arbeitswel­t – die Grünen diskutiere­n bis Samstag nicht nur über Klimaschut­z. Man brauche jetzt ein „Vollprogra­mm“, sagt Sven Giegold. Es reiche nicht mehr, nur einige Probleme lösen zu wollen. Wo sie wieder bei der Verantwort­ung wären.

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FOTO: DPA Die Landeschef­in der Grünen, Mona Neubaur (l.), und die Bundesvors­itzende Annalena Baerbock am Freitag auf dem Landespart­eitag in Neuss.

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