Rheinische Post - Xanten and Moers
Trauert nicht den Volksparteien nach!
Die Probleme von Union und SPD sind hausgemacht. Ihr Niedergang mag verunsichern, ein Grund zur Panik aber ist er nicht. Das zeigt auch ein Blick in die Geschichte – und über den Tellerrand der Republik.
Die Volksparteien sind tot! Der Ruf erschallt aus vielen Ecken. Es ist ein banger und damit typisch deutscher Ruf. Union und SPD waren über Jahrzehnte die politische Reiserücktrittsversicherung der Bürger. Wenn der Ausflug zu den kleineren Parteien enttäuschte, gab es immer noch die Volksparteien. Sie versprachen, was das Volk so sehr liebt: Stabilität. Nun, mit Wahlergebnissen von bisher ungeahnter Dramatik, reisen die Bürger ins Ungewisse. Das ist aufregend, aber kein Grund zu trauern. Aus drei Gründen.
Erstens: Union und SPD tragen die Hauptverantwortung für ihren Niedergang.
Sie sind undurchlässig geworden. Wer in den Volksparteien Karriere machen will, steigt so früh wie möglich in die Parteiarbeit ein. Ein klassischer Weg führt aus dem Hörsaal in das Büro eines Abgeordneten oder in die Parteizentrale. Das schließt Vielfalt aus und wichtige Lebenserfahrung leider auch. Die Begeisterung für Martin Schulz oder Robert Habeck ist Ausdruck einer Sehnsucht nach Persönlichkeiten mit einem Leben vor der Politik. Aber weil die Volksparteien sind, wie sie sind, und fleißige Karrieristen dem erfahrenen Quergänger vorziehen, ist ihnen der Draht zum Alltag vieler Bürger verloren gegangen. Der peinliche Umgang mit Youtubern ist das Symptom, dass sich eine politische Generation von der Lebenswirklichkeit eines wesentlichen Teils der Bevölkerung entkoppelt hat.
Freilich gibt es das Problem der Karrieristen auch in anderen Parteien. Aber weil SPD und Union noch immer größer sind als die anderen, vor allem mehr Mandate in Kommunen, Ländern und Bund haben, wirkt es sich bei ihnen viel stärker aus. Es gibt schlicht mehr Möglichkeiten, bei SPD oder Union einen Job zu finden. Daher ist die Verlockung größer, aus dem bestehenden Kreis das Spitzenpersonal zu wählen. Die schwerfällige
Organisation macht die Volksparteien überdies träge. Zudem wirken die aktuellen Spitzen von Schwarz und Rot auch zu oft wie Parteisoldaten, böse gesagt: wie Apparatschiks.
Sie kreisen um sich selbst. Dass es CDU-Politiker gibt, die wirklich annehmen, es treibe derzeit die Massen um, wer wohl Kanzlerkandidat ihrer Partei wird, erschüttert. Dass der SPD in ihrer existenziellen Krise nicht mehr als Doppelspitze und Urwahl einfallen, ist bemitleidenswert. Machtpolitik mag ein interessantes Feld sein. In Zeiten, in denen die Bürger erwarten, dass elementare Probleme gelöst werden (Pflege, Mieten, Klima, Sicherheit), wirkt sie wie ein Fluchtversuch vor der Realität.
Zweitens: Veränderung ist weder schlecht noch neu, sondern ganz normal. Im Moment gibt es nur besonders viel davon. Die Verschiebungen der vergangenen zehn Jahre dürften heftiger gewesen sein als in den 60 Jahren davor. Als da wären: der zweimalige Höhenflug der Grünen – zum ersten Mal 2011, zum zweiten Mal 2019; die Etablierung der AfD rechts von der Union; eine schwindelerregende Fahrt der FDP erst nach ganz oben, dann nach ganz unten, inzwischen wieder auf Mittelmaß; schließlich das dramatische Schrumpfen der Volksparteien CDU/CSU und SPD, die gemeinsam heute in keiner Umfrage mehr auf 50, teils auf weniger als 40 Prozent kommen, wobei die Union fast so heftig verloren hat wie die Sozialdemokraten.
Das sind Veränderungen, die man epochal nennen darf; seriöse Aussichten, dass es bald zurückgeht zu den übersichtlichen Verhältnissen etwa der 70er Jahre, als Union, SPD und FDP gemeinsam 99 Prozent der Stimmen abräumten, gibt es nicht. Trotzdem war auch früher nicht alles festgemauert in der Erden: Das Parteiensystem der Bundesrepublik war stets in Bewegung. Langsamer zwar, aber in Bewegung.
Es brauchte einige Jahre, bis sich das Trio Union-SPD-FDP herausgebildet hatte. „Zweieinhalbparteiensystem“ haben die Politikwissenschaftler den Zustand genannt, mit der FDP als Königsmacher zwischen den Riesen Union und SPD. Aus zweieinhalb Parteien wurden mit den Grünen zwei Blöcke, Schwarz-Gelb und Rot-Grün, zwischen denen auf Bundesebene bis 2005 nie und auf Landesebene nur im Notfall koaliert wurde. Als aus der SED schließlich die Linke geworden war, hatte Deutschland nach den Worten des Politologen Oskar Niedermayer ein „fluides Fünfparteiensystem“mit ganz neuen Koalitionsmöglichkeiten, Rot-Rot etwa (erstmals 1998 in Mecklenburg-Vorpommern) oder Schwarz-Grün (erstmals 2008 in Hamburg). Ziemlich viel Veränderung also schon, bevor es dann richtig losging – siehe oben.
Drittens: Und unter diesem Blickwinkel mögen die Veränderungen in der Bundesrepublik sogar eher als Normalisierung erscheinen: Deutschland war in Westeuropa mit der Dominanz zweier großer Parteien am Ende ein Sonderfall – zumindest unter den Ländern mit einem Verhältniswahlsystem, bei dem sich die Zahl der Stimmen mehr oder weniger proportional in die Zahl der Sitze umrechnen lässt. Wo es solche Zweierkonstellationen dennoch gab, in Spanien zum Beispiel oder in Italien, sind sie längst Geschichte. Andere Länder haben sie nie gekannt, die skandinavischen Staaten etwa. Dass dort deswegen schlechter regiert wurde, wird man aber nicht ohne Weiteres behaupten können.
Die beiden Volksparteien der alten Bundesrepublik werden wir, zumindest in ihrer bisherigen Größe, womöglich nicht wiedersehen. Warum es aber der Gesellschaft schaden sollte, wenn, zum Beispiel, drei Parteien 65 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen (wie bei der Europawahl 2019) und nicht mehr zwei Parteien 75 Prozent (wie bei der Bundestagswahl 1998), erschließt sich nicht recht. Sicher, das Regieren wird schwieriger: die Suche nach Koalitionen und die Kompromissfindung mit den Ländern. Das sind aber nur technische Fragen. Über gesellschaftlichen Zusammenhalt oder wirtschaftlichen Erfolg ist damit nichts gesagt. Diese sind immer noch eine Frage der Inhalte.
Dass der SPD nicht mehr als Doppelspitze und
Urwahl einfallen, ist bemitleidenswert