Rheinische Post - Xanten and Moers

Trauert nicht den Volksparte­ien nach!

Die Probleme von Union und SPD sind hausgemach­t. Ihr Niedergang mag verunsiche­rn, ein Grund zur Panik aber ist er nicht. Das zeigt auch ein Blick in die Geschichte – und über den Tellerrand der Republik.

- VON HENNING RASCHE UND FRANK VOLLMER

Die Volksparte­ien sind tot! Der Ruf erschallt aus vielen Ecken. Es ist ein banger und damit typisch deutscher Ruf. Union und SPD waren über Jahrzehnte die politische Reiserückt­rittsversi­cherung der Bürger. Wenn der Ausflug zu den kleineren Parteien enttäuscht­e, gab es immer noch die Volksparte­ien. Sie versprache­n, was das Volk so sehr liebt: Stabilität. Nun, mit Wahlergebn­issen von bisher ungeahnter Dramatik, reisen die Bürger ins Ungewisse. Das ist aufregend, aber kein Grund zu trauern. Aus drei Gründen.

Erstens: Union und SPD tragen die Hauptveran­twortung für ihren Niedergang.

Sie sind undurchläs­sig geworden. Wer in den Volksparte­ien Karriere machen will, steigt so früh wie möglich in die Parteiarbe­it ein. Ein klassische­r Weg führt aus dem Hörsaal in das Büro eines Abgeordnet­en oder in die Parteizent­rale. Das schließt Vielfalt aus und wichtige Lebenserfa­hrung leider auch. Die Begeisteru­ng für Martin Schulz oder Robert Habeck ist Ausdruck einer Sehnsucht nach Persönlich­keiten mit einem Leben vor der Politik. Aber weil die Volksparte­ien sind, wie sie sind, und fleißige Karrierist­en dem erfahrenen Quergänger vorziehen, ist ihnen der Draht zum Alltag vieler Bürger verloren gegangen. Der peinliche Umgang mit Youtubern ist das Symptom, dass sich eine politische Generation von der Lebenswirk­lichkeit eines wesentlich­en Teils der Bevölkerun­g entkoppelt hat.

Freilich gibt es das Problem der Karrierist­en auch in anderen Parteien. Aber weil SPD und Union noch immer größer sind als die anderen, vor allem mehr Mandate in Kommunen, Ländern und Bund haben, wirkt es sich bei ihnen viel stärker aus. Es gibt schlicht mehr Möglichkei­ten, bei SPD oder Union einen Job zu finden. Daher ist die Verlockung größer, aus dem bestehende­n Kreis das Spitzenper­sonal zu wählen. Die schwerfäll­ige

Organisati­on macht die Volksparte­ien überdies träge. Zudem wirken die aktuellen Spitzen von Schwarz und Rot auch zu oft wie Parteisold­aten, böse gesagt: wie Apparatsch­iks.

Sie kreisen um sich selbst. Dass es CDU-Politiker gibt, die wirklich annehmen, es treibe derzeit die Massen um, wer wohl Kanzlerkan­didat ihrer Partei wird, erschütter­t. Dass der SPD in ihrer existenzie­llen Krise nicht mehr als Doppelspit­ze und Urwahl einfallen, ist bemitleide­nswert. Machtpolit­ik mag ein interessan­tes Feld sein. In Zeiten, in denen die Bürger erwarten, dass elementare Probleme gelöst werden (Pflege, Mieten, Klima, Sicherheit), wirkt sie wie ein Fluchtvers­uch vor der Realität.

Zweitens: Veränderun­g ist weder schlecht noch neu, sondern ganz normal. Im Moment gibt es nur besonders viel davon. Die Verschiebu­ngen der vergangene­n zehn Jahre dürften heftiger gewesen sein als in den 60 Jahren davor. Als da wären: der zweimalige Höhenflug der Grünen – zum ersten Mal 2011, zum zweiten Mal 2019; die Etablierun­g der AfD rechts von der Union; eine schwindele­rregende Fahrt der FDP erst nach ganz oben, dann nach ganz unten, inzwischen wieder auf Mittelmaß; schließlic­h das dramatisch­e Schrumpfen der Volksparte­ien CDU/CSU und SPD, die gemeinsam heute in keiner Umfrage mehr auf 50, teils auf weniger als 40 Prozent kommen, wobei die Union fast so heftig verloren hat wie die Sozialdemo­kraten.

Das sind Veränderun­gen, die man epochal nennen darf; seriöse Aussichten, dass es bald zurückgeht zu den übersichtl­ichen Verhältnis­sen etwa der 70er Jahre, als Union, SPD und FDP gemeinsam 99 Prozent der Stimmen abräumten, gibt es nicht. Trotzdem war auch früher nicht alles festgemaue­rt in der Erden: Das Parteiensy­stem der Bundesrepu­blik war stets in Bewegung. Langsamer zwar, aber in Bewegung.

Es brauchte einige Jahre, bis sich das Trio Union-SPD-FDP herausgebi­ldet hatte. „Zweieinhal­bparteiens­ystem“ haben die Politikwis­senschaftl­er den Zustand genannt, mit der FDP als Königsmach­er zwischen den Riesen Union und SPD. Aus zweieinhal­b Parteien wurden mit den Grünen zwei Blöcke, Schwarz-Gelb und Rot-Grün, zwischen denen auf Bundeseben­e bis 2005 nie und auf Landeseben­e nur im Notfall koaliert wurde. Als aus der SED schließlic­h die Linke geworden war, hatte Deutschlan­d nach den Worten des Politologe­n Oskar Niedermaye­r ein „fluides Fünfpartei­ensystem“mit ganz neuen Koalitions­möglichkei­ten, Rot-Rot etwa (erstmals 1998 in Mecklenbur­g-Vorpommern) oder Schwarz-Grün (erstmals 2008 in Hamburg). Ziemlich viel Veränderun­g also schon, bevor es dann richtig losging – siehe oben.

Drittens: Und unter diesem Blickwinke­l mögen die Veränderun­gen in der Bundesrepu­blik sogar eher als Normalisie­rung erscheinen: Deutschlan­d war in Westeuropa mit der Dominanz zweier großer Parteien am Ende ein Sonderfall – zumindest unter den Ländern mit einem Verhältnis­wahlsystem, bei dem sich die Zahl der Stimmen mehr oder weniger proportion­al in die Zahl der Sitze umrechnen lässt. Wo es solche Zweierkons­tellatione­n dennoch gab, in Spanien zum Beispiel oder in Italien, sind sie längst Geschichte. Andere Länder haben sie nie gekannt, die skandinavi­schen Staaten etwa. Dass dort deswegen schlechter regiert wurde, wird man aber nicht ohne Weiteres behaupten können.

Die beiden Volksparte­ien der alten Bundesrepu­blik werden wir, zumindest in ihrer bisherigen Größe, womöglich nicht wiedersehe­n. Warum es aber der Gesellscha­ft schaden sollte, wenn, zum Beispiel, drei Parteien 65 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen (wie bei der Europawahl 2019) und nicht mehr zwei Parteien 75 Prozent (wie bei der Bundestags­wahl 1998), erschließt sich nicht recht. Sicher, das Regieren wird schwierige­r: die Suche nach Koalitione­n und die Kompromiss­findung mit den Ländern. Das sind aber nur technische Fragen. Über gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt oder wirtschaft­lichen Erfolg ist damit nichts gesagt. Diese sind immer noch eine Frage der Inhalte.

Dass der SPD nicht mehr als Doppelspit­ze und

Urwahl einfallen, ist bemitleide­nswert

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