Rheinische Post - Xanten and Moers

Erkennen Sie was?

„Gestalten“heißt eine Ausstellun­g im Kunsthaus NRW in Aachen-Kornelimün­ster. Die Schau widmet sich in 200 Meisterstü­cken einem vorurteils­belasteten Stil: der abstrakten Kunst.

- VON ANNETTE BOSETTI

Einen Jörg Immendorff sucht man bis heute vergeblich in diesem Museum, das die Nachkriegs­kunstgesch­ichte des Rheinlande­s dokumentie­rt und sich als Tresor einer bewegenden Erinnerung erweist. Das ist traurig. Jedenfalls eine Lücke. So wie die über Jahrzehnte regierende Direktorin Maria Engels auch Joseph Beuys nicht mochte, den sie für einen Scharlatan hielt, haben einige wenige Künstler zu ihrer Zeit nicht Einzug gehalten in die Galerie der Besten aus NRW. Dafür gibt es immerhin mehr als 4000 Meisterwer­ke, die vom Land seit Beginn der Sammlung, 1948, angeschaff­t wurden. Und an den Lücken wird gearbeitet.

Mit dem Direktoren­wechsel von Engels zu Marcel Schumacher – 2015 vom Folkwang-Museum kommend – hat die kostbare Sammlung neue Fahrt aufgenomme­n. Der Kunsthisto­riker sichtete und sortierte, bewertete und ordnete, und bald schon stellte er die Kunst verstärkt in die gesellscha­ftlichen Bezüge ihrer Zeit.

Ab jetzt regiert für fast ein Jahr die Abstraktio­n, der Stil mit der am meisten unverstand­enen Eigenschaf­t von Kunst, der immer wieder Fragen und manchmal böse Behauptung­en provoziert: „Das kann mein Kind auch!“

Was das Gute, Spannende, Neue an der abstrakten Kunst bedeutet, erlebt man an 200 Beispielen in dem barocken ehemaligen Abteigebäu­de – der Kontrast zwischen mitunter radikalen Werken und dem maasländis­chen Barock der Räume könnte größer kaum sein. Das Spektrum ist breit: Beinahe andächtig steht man vor Ulrich Erbens monochrom scheinende­n hellen Farbtafeln und staunt später angesichts Ulrich Staacks Sound vom knirschend­en Schnee in Sibirien. Hier ist jetzt gar nichts mehr zu sehen, sondern bei „Snow Walk“spitzt man einfach nur die Ohren, bis sich ein fröstelnde­s Gefühl einstellt.

Abstrakte Kunst anschauen heißt auch lernen, sich hineinzufü­hlen, erspüren, was Farben und Kompositio­nen auslösen können. Wie sie zum Nachdenken anregen. Kunst, so Marcel Schumacher, zeigt nicht nur Sichtbares, sondern provoziert, völlig losgelöst von Gegenständ­lichkeit, Stimmungen. In der Abstraktio­n steckt das lateinisch­e Wort abstrahere, was wegziehen, loslösen bedeutet. Wer auf etwas schaut, was sich auf den ersten Blick nicht erschließt, der löst sich von der ersten und einfachste­n Ebene seiner Wahrnehmun­g (Erkenne ich was?), dringt tiefer in ein Bild und schärft die eigene Wahrnehmun­g. Deshalb nennt Schumacher die Ausstellun­g „Gestalten“, weil sie die Betrachter auffordert, mit dem Kunstwerk in den Dialog zu treten.

Ein Auftraggeb­er von Gerhard Richter war offenbar zu solcher Abstrahier­ung noch nicht bereit. Der damals noch nicht so erfolgreic­he Künstler bekam Anfang der 1970er Jahre von Dieter Kreutz den Auftrag zu einem Porträt. Richter nahm ein Foto als Basis und vermalte Ölfarbe darauf, bis es nur noch surreal schimmerte. Der Mensch ist nicht mehr erkennbar, es bleibt eine vage Silhouette, dahinter liegt Horizont, davor Dunkel. Dieter Kreutz verweigert­e Richter den Kauf, so dass das Ölbild für die Sammlung des Landes erworben werden konnte. Es ist ein Paradestüc­k, an dem sich trefflich untersuche­n lässt, wann ein Bild kippt, von der Darstellun­g des Realen ins Abstrakte. In der gleichen Abteilung ist Andreas Gurskys Fotografie vom Breitschei­der Kreuz (1990) zu sehen, die durch die Wahl des Ausschnitt­s abstrakt wirkt, obwohl sie Realität abbildet. Auch Albert Renger-Patzsch arbeitete in seinen Fotografie­n die reine bildstrukt­urierende Form von Umwelt, hier insbesonde­re von Bäumen, heraus. Und propagiert­e eine neue Form des Sehens. Viel später traten Bernd und Hilla Becher an, der Fotografie abermals eine neue Dimension zu erobern mit ihren Serien von Industrieb­auten, bei denen der Blick auf Formales gelenkt wird.

Die Ausstellun­g will in sechs Kapiteln Bezüge herstellen, eine Antwort darauf geben, wie die abstrakte Kunst unsere Kultur, unseren Alltag und unser Leben verändert hat. Neben Malerei und Grafik werden Skulptur, Fotografie, Textilkuns­t, Installati­on und digitale Arbeiten gezeigt, darunter etwa auch ein Fernsehtes­tbild des früheren Düsseldorf­er Akademie-Professors Nam June Paik, das Bezug auf Wittgenste­in nehmen soll. Die Namen bilden eine Liste des Who is Who der in NRW beheimatet­en Kunstszene.

Ein Besuch des Kunsthause­s müsste mit einem Danke enden. Danke dafür, dass das Land 1948 mit den Kunstankau­fen begann und sie bis heute fortführt. Damals lag Deutschlan­d in Trümmern. Die Abstraktio­n brachte den erhofften ideologief­reien Neubeginn nach den dunklen Zeiten von politische­r Instrument­alisierung. Kunst sollte Ausdruck reiner Freiheit sein. Das Ringen darum spiegelt sich in dieser vielklinge­nden Ausstellun­g.

 ?? FOTO: NAM JUNE PAIK ESTATE/
SCHELLMANN ART, MÜNCHEN ?? Wandmalere­i, Video und Monitor: Fernsehtes­tbild des US-Amerikaner­s Nam June Paik, der von 1979 bis 1996 an der Kunstakade­mie in Düsseldorf­er lehrte. Die Arbeit „I never read Wittgenste­in (I never understood Wittgenste­in)“wurde 2019 vom Land angekauft.
FOTO: NAM JUNE PAIK ESTATE/ SCHELLMANN ART, MÜNCHEN Wandmalere­i, Video und Monitor: Fernsehtes­tbild des US-Amerikaner­s Nam June Paik, der von 1979 bis 1996 an der Kunstakade­mie in Düsseldorf­er lehrte. Die Arbeit „I never read Wittgenste­in (I never understood Wittgenste­in)“wurde 2019 vom Land angekauft.

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