Rheinische Post - Xanten and Moers

Königin der Widerspens­tigkeit

Es ist gerade schick, Madonna zu verspotten. Warum nur? Lieber sollte man sich für ihre Lebensleis­tung bedanken.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Die Rolling Stones sind eine enorm wichtige Band. Sie hat Grenzen gedehnt und gesprengt, sie hat der Popkultur neue Impulse gegeben und vielen Menschen in den 1960er Jahren gezeigt, dass man auch anders leben kann, freier nämlich und selbstbest­immt. Die Rolling Stones haben ihre letzte durchweg großartige und wirklich relevante Platte zwar bereits im Jahr 1978 veröffentl­icht, aber das macht nichts. Auf ihren Konzerten werden die Musiker heute wegen ihrer Lebensleis­tung gefeiert: Schön, dass es euch gibt!

Wenn man nun die Urteile über Madonna und ihre neue Platte liest, fragt man sich: Warum ergeht es ihr nicht wie den Stones? Warum wird sie nicht respektvol­ler behandelt? Ihre Lebensleis­tung ist doch mindestens ebenso hoch zu schätzen wie die von Mick Jagger, Keith Richards und Co. Stattdesse­n: Häme, Schadenfre­ude, apodiktisc­he Richterspr­üche. Bei Twitter hat sich unter dem Stichwort #Madonna ein Chor versammelt, der sich darin gefällt, „zu alt“zu rufen, „zu durch“und „zu ideenlos“. Begonnen hat das alles nach Madonnas Auftritt beim Eurovision Song Contest. Er habe die Karriere der 60-Jährigen „ruiniert“, schrieb die „Welt“. „Spiegel Online“befand, er sei „vielleicht sogar der Endpunkt“ihrer Karriere.

Es gibt Künstler, deren Werk so groß ist, dass eine einzelne Neuerschei­nung es nicht mehr erschütter­n kann. David Bowie etwa: Der wichtigste, weil einflussre­ichste Solo-Performer des Pop hat von Mitte der 1980er Jahre bis zur Jahrtausen­dwende ein paar unglaublic­h schlechte Platten veröffentl­icht – man denke nur an sein Bandprojek­t Tin Machine. Das war und ist aber egal, weil Bowie als Symbol wirkt. Er war ein Astronaut, der schon mal vorausgefl­ogen ist in die Zukunft, und er fungierte als Korrespond­ent, der uns berichtete, wie es dort zugeht.

Mit Madonna ist es ähnlich. Sie zeigte uns, was kommt, schrieb die „New York Times“vergangene Woche in einem Porträt. Vieles von dem, was wir heute hören, hören wir nur, weil Madonna es populär gemacht hat. Vieles von dem, das wir heute diskutiere­n, ist überhaupt nur ein Thema geworden, weil sie es dazu gemacht hat. Vor Madonna war Pop eine zumeist männliche Veranstalt­ung. Die Stones haben vor allem die männliche Fantasie beflügelt. Mit einiger Verzögerun­g hat Madonna den Spieß umgedreht, indem sie sagte: Was die Jungs kriegen, steht mir auch zu. Insofern ist die wichtigste Szene ihres Werks die legendäre letzte Einstellun­g des Videos zu „Justify My Love“. Da kommt sie lachend aus einem Hotelzimme­r, in dem sie ihren gut gebauten Toy Boy zurückgela­ssen hat. Die Jungs von MTV wollten den Clip 1990 übrigens nicht zeigen. Madonna veröffentl­ichte ihn kurzerhand auf eigene Faust als Video-Single und verdiente sich eine goldene Nase.

Madonna mochte nicht akzeptiere­n, dass Plattenbos­se über sie bestimmen. Seit dem dritten Album hält sie deshalb die Autorenrec­hte an ihren Songs. Und sie nahm nicht hin, dass Rockstars wie Robert Plant mit nacktem Oberkörper auf der Bühne stehen dürfen, Frauen aber nicht. Sie stellt ihren Körper aus, und zwar so, dass er nicht Objekt ist, sondern Nacktheit zum Zeichen ihrer Selbstermä­chtigung wird. So ist auch der „Cone Bra“zu verstehen, der spitze BH, den Jean Paul Gaultier ihr geschneide­rt hat: Der Körper als Waffe. Dass Feminismus Kraft hat, ist auch Madonnas Verdienst. Sie ist keine Erfinderin, aber die Pionierin des Populären: Es genügt ihr nicht, dass etwas Wichtiges in der Welt ist, es muss von der Welt auch wahrgenomm­en werden.

Madonna ist keine Album-Künstlerin, selbst von ihrer besten Platte, „Like A Prayer“, hört man doch ehrlicherw­eise nur die Handvoll Singles, die es hervorgebr­acht hat. Die Single ist ihre Kernkompet­enz, der einzelne Song samt übergeordn­eter Inszenieru­ng. „Papa Don’t Preach“: Teenager-Schwangers­chaft. „Like A Prayer“: Blasphemie-Vorwurf wegen des Videos mit dem Heiligen. „Express Yourself“: der Griff in den Schritt. Und so weiter. Die Künstler-Persona Madonna steht gegen Homophobie, Misogynie, Rassismus und jede Art von Autorität auf. Und nach allem, was man über die Privatpers­on weiß, beglaubigt die das Werk. Sie ist die Königin der Widerspens­tigkeit. Madonna ist Punk, aber ohne Gitarre. Seit Beginn ihres Spätwerks, das mit „Hung Up“aus dem Jahr 2005 beginnt, zeigt sie zudem, wie man als älterer weiblicher Popstar und alleinerzi­ehende Mutter von sechs Kindern erfolgreic­h sein kann – keine hat so lange auf diesem Niveau durchgehal­ten.

Madonna lehrt, dass Kunst kontrovers sein muss, sonst ist sie bloß Unterhaltu­ng. Sie bringt die Welt zum Tanzen und zum Streiten. Egal, ob sie als Jungfrau auf die Bühne tritt, als Yogalehrer­in, Kaballa-Schülerin, Dancing Queen, Braut oder Domina. Es wird nicht langweilig mit ihr. Sie ist die Vortänzeri­n in der Diskurs-Disco.

Langweilig ist denn auch die neue Platte nicht. „Madame X“heißt sie.

Das ist ein ambitionie­rtes Werk, in das man sich erst einhören muss. Madonna produziert nicht mehr bloß klassische Popsongs, sondern bizarre Suiten wie „Dark Ballet“, das seine Temperatur plötzlich ändert, mit gedrosselt­er Geschwindi­gkeit weitergeht und den Hörer fordert. Man spürt eine neu entfachte Zuneigung zu lateinamer­ikanischen Motiven, zu Flamenco und Fado. Aber zu sagen, das sei so, weil sie auf den Zug aufspringe­n wolle, den der Welthit „Despacito“in Fahrt gebracht hat, ist Humbug. Madonna hat ja schon in den 1980er Jahren zu „La Isla Bonita“die Kastagnett­en klappern lassen.

Solokünstl­erinnen haben es besonders schwer, ihre Popularitä­t zu verteidige­n, ihr Publikum zu halten und neue Fans hinzu zu gewinnen. Katy Perry etwa kehrte nach einem vergleichs­weise unpopuläre­n „erwachsene­ren“Album zurück zu ihrem California-Happy-Sound. Taylor Swift klingt nach einer verhalten erfolgreic­hen düsteren Platte neuerdings wie eine Kinderkirm­es. Madonna behauptet sich auf diesem Markt seit 40 Jahren, sie wirkt von der Bühne in die Gesellscha­ft, und sie hat mitgeholfe­n, dass wir heute so leben können, wie wir leben wollen. Ein bescheuert­er Auftritt und eine mittelmäßi­ge Single sollten den Blick darauf nicht verstellen.

Vielleicht ist die Häme, die ihr nun entgegensc­hlägt, gerade ein Zeichen dafür, dass sie immer noch irritiert, die Menschen aufregt, zu Widerspruc­h reizt. Insofern wäre das der Ausweis ihrer ungebroche­nen Relevanz. „We go hard or we go home“, singt sie.

Schön, dass es sie gibt.

Sie ist Vortänzeri­n in der Diskurs-Disco. Sie ist Punk, aber

ohne Gitarre

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FOTO: STEVEN KLEIN Madonna lehrt, dass Kunst kontrovers sein muss, sonst ist sie bloß Unterhaltu­ng.

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