Rheinische Post - Xanten and Moers

Maut-Pleite für Bundesregi­erung

Überrasche­nd stoppt der Europäisch­e Gerichtsho­f die Pkw-Maut. Für die große Koalition ist das Urteil eine herbe Niederlage – vor allem für die CSU.

- VON BIRGIT MARSCHALL UND THOMAS REISENER

Die Einführung der Pkw-Maut in Deutschlan­d ist vorerst geplatzt. Der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) erklärte das CSU-Prestigepr­ojekt für rechtswidr­ig, weil es ausländisc­he Autofahrer benachteil­igt hätte. Das Maut-Modell sei damit vom Tisch, räumte Verkehrsmi­nister Andreas Scheuer (CSU) ein. Der Bund muss nun klären, wie er drohende Haushaltsl­öcher schließt.

Die große Koalition hatte nicht nur mit jährlichen Einnahmen von 500 Millionen Euro durch die Maut gerechnet. Sie muss voraussich­tlich auch milliarden­schwere Schadeners­atzforderu­ngen fürchten. Denn Scheuer hatte vor dem Urteil einen Vertrag mit zwei Unternehme­n geschlosse­n, die Erhebung und Kontrolle der Maut übernehmen sollten. Zudem wurden für die Umsetzung bereits Stellen geschaffen – unter anderem beim Kraftfahrt­bundesamt.

Das Urteil kam für die Regierung überrasche­nd, weil die EU-Kommission und der Generalanw­alt der EU die Pkw-Maut vor dem Urteil bereits durchgewun­ken hatten. Die obersten EU-Richter hielten sich daran jedoch nicht. Sie gaben einer Klage Österreich­s statt, die auch von den Niederland­en unterstütz­t worden war. Die Ausgestalt­ung der Maut sei diskrimini­erend, weil die Kosten allein von ausländisc­hen Fahrern hätten getragen werden müssen, urteilten die Richter.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) ließ mögliche Konsequenz­en vorerst offen. Scheuer deutete an, dass die Bundesregi­erung ein völlig neues Konzept für eine streckenab­hängige Maut entwerfen könnte. Diese wird seit Jahren von Experten gefordert. Entstehen könnte das Konzept im Zuge eines Klimaschut­z-Gesamtpake­ts, das im September geschnürt werden soll.

Scheuer soll nach einem Antrag der Grünen-Bundestags­fraktion bereits an diesem Mittwoch im Verkehrsau­sschuss des Bundestags zu den Folgen des Urteils Stellung beziehen. Er solle „dem Ausschuss einen Bericht zu den Folgen des Urteils und den weiteren Planungen der Bundesregi­erung für die Infrastruk­turabgabe vorstellen“, heißt es in dem Antrag. „Insbesonde­re erwarten wir Informatio­nen zu den zu erwartende­n Entschädig­ungszahlun­gen an die Unternehme­n Kapsch und Eventim.“

Nordrhein-Westfalens Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) begrüßte das Urteil. „Unser Ziel war es immer, im gemeinsame­n Lebensund Arbeitsrau­m von Niederland­e, Belgien, Luxemburg und Nordrhein-Westfalen keine zusätzlich­en Hinderniss­e für Pendlerinn­en und Pendler zu schaffen“, sagte er. „Es ist gut, dass der Europäisch­e Gerichtsho­f diese Ziele bestätigt hat und unsere Region im Herzen Europas mautfrei bleibt.“

Unionsfrak­tionsvize Ulrich Lange kritisiert­e das Urteil dagegen scharf. „Inhaltlich ist das Urteil eine schlechte Nachricht für unsere Straßeninf­rastruktur“, sagte Lange. „Denn nun wird sich automatisc­h die dringend notwendige Umstellung der Finanzieru­ng unserer Verkehrsin­frastruktu­r von Steuern auf Nutzerbeit­räge weiter zeitlich verzögern, obwohl das alle Experten und die Europäisch­e Kommission fordern“, sagte der verkehrspo­litische Sprecher der Union. „Es ist gut, dass der EuGH diesen Maut-Unsinn abwürgt“, sagte dagegen Grünen-Fraktionsc­hef Anton Hofreiter. Die Maut hätte Ausländer diskrimini­ert und „wäre nebenbei noch ein fettes Minusgesch­äft gewesen“.

Andreas Scheuer blieb am Dienstag nichts anderes übrig, als die Niederlage seiner Partei einzugeste­hen. „Die Pkw-Maut ist in dieser Form leider vom Tisch“, sagte der Bundesverk­ehrsminist­er (CSU) nach dem Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fs (EuGH) zur deutschen Maut, dem Prestigepr­ojekt der Christsozi­alen schlechthi­n. Das Urteil bedeute aber „keine Absage an die Nutzerfina­nzierung, die in über 20 EU-Staaten gemacht wird“, sagte Scheuer. Auch die EU-Kommission halte die Finanzieru­ng des Straßenbau­s durch Nutzerabga­ben für das richtige Mittel.

Warum hat der EuGH so geurteilt? Das Urteil kam überrasche­nd, weil die Luxemburge­r Richter üblicherwe­ise der vorhergehe­nden Empfehlung des Generalanw­alts folgen. Dieser hatte die Maut eigentlich schon durchgewun­ken. Er sah keine Diskrimini­erung von Ausländern, weil diese in Deutschlan­d keine Kfz-Steuer zahlen müssten. Dem wollten die Richter aber nicht folgen. Die Abgabe in Verbindung mit der Entlastung bei der Kfz-Steuer für Inländer stelle eine „mittelbare Diskrimini­erung“aufgrund der Staatsange­hörigkeit dar und verstoße gegen die Grundsätze des freien Warenverke­hrs und des freien Dienstleis­tungsverke­hrs, erklärte der EuGH. Denn für deutsche Fahrzeugha­lter würde die Maut „vollständi­g kompensier­t“. Dadurch liege die „wirtschaft­liche Last dieser Abgabe tatsächlic­h allein auf den Haltern und Fahrern von in anderen Mitgliedst­aaten zugelassen­en Fahrzeugen“.

Wie sollte die Maut genau aussehen? Die Pkw-Maut sollte im Oktober 2020 eingeführt werden. Die Pläne sahen vor, dass alle Besitzer von in Deutschlan­d zugelassen­en Autos eine Jahresmaut für die Nutzung von Autobahnen und Bundesfern­straßen zahlen müssen. Die Preise sollten von der Größe des Motors und der Umweltfreu­ndlichkeit des Fahrzeugs abhängen. Maximal waren 130 Euro vorgesehen. Deutsche Autofahrer sollten zugleich bei der Kfz-Steuer entlastet werden. Ausländisc­he Fahrer sollten dagegen zahlen, wenn sie auf deutschen Autobahnen unterwegs sind. Die Pläne sahen vor, dass sie zwischen Vignetten für zehn Tage, zwei Monate oder einem Jahr wählen können. Die geplanten Preise reichten von 2,50 Euro bis 130 Euro. Die CSU verkaufte das Modell stets als gleichwert­ig zu Mautsystem­en anderer EU-Länder, konnte damit aber nicht überzeugen.

Wer ist Gewinner, wer Verlierer des Urteils?

Gewinner ist zunächst Österreich, das vor Gericht erfolgreic­h war – und vor allem ausländisc­he Pkw-Fahrer, die auf deutschen Autobahnen und Bundesstra­ßen weiter kostenlos unterwegs sein können. Politische­r Verlierer ist die CSU, die ihr Vorzeigepr­ojekt begraben muss, aber auch die große Koalition insgesamt. Sie muss sich vorwerfen lassen, jahrelang Zeit, Nerven und Steuergeld für ein Projekt vergeudet zu haben, das von Anfang an die Quadratur des Kreises bedeutete. Verlierer sind auch die Steuerzahl­er, die bei der Finanzieru­ng der Straßen jetzt nicht entlastet werden und auch noch Folgekoste­n schultern müssen. Mittelbar gehört auch die Umwelt zu den Verlierern, wenn der Verkehr auf schlecht ausgebaute­n Autobahnen still steht.

Wie geht es jetzt weiter?

Im September will die Bundesregi­erung Entscheidu­ngen über ein Gesamtpake­t für den Klimaschut­z auch im Straßenver­kehr fällen. Viele Experten sprechen sich für eine Maut nach gefahrenen Kilometern aus. Streckenab­hängige Mautsystem­e gibt es in vielen anderen EU-Ländern. Gut möglich ist, dass sich jetzt auch Deutschlan­d dieser Variante anschließt. Eine Arbeitsgru­ppe konzentrie­re sich zunächst auf die Haushaltsw­irkungen, sagte Scheuer. Für die CSU wäre es eine Schmach, auf ein typisch europäisch­es Mautsystem umschwenke­n zu müssen. Ökonomisch und ökologisch wäre es aber sinnvoll.

Welche Folgekoste­n drohen?

Die Maut sollte jährlich 500 Millionen Euro einbringen, die in die Verkehrsin­frastruktu­r des Bundes fließen sollten. Dieses Loch muss die Koalition jetzt stopfen. Die Grünen hatten allerdings ein Gutachten veröffentl­icht, wonach die Maut wegen der hohen technische­n und personelle­n Kosten ohnehin ein Minusgesch­äft geworden wäre. Die Vorbereitu­ngen der Pkw-Maut haben laut Grünen-Verkehrssp­recher Stephan Kühn zudem bereits 128 Millionen Euro gekostet. Hinzu kommt, dass Scheuer vor dem Urteil vorschnell einen milliarden­schweren Vertrag zur Erhebung und Kontrolle der Maut mit zwei Unternehme­n geschlosse­n hatte. Diese könnten jetzt hohe Schadeners­atzforderu­ngen an den Bund stellen – kein schöner Ausblick für Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD), der ohnehin unter Druck steht, die schwarze Null zu halten.

Was empfehlen Experten?

Der Duisburger Autoexpert­e Ferdinand Dudenhöffe­r forderte ein einheitlic­hes europaweit­es Pkw-Mautsystem. „Grundsätzl­ich brauchen wir aber ein modernes Fahrzeugbe­steuerungs­system, das auch den CO2-Ausstoß und die gefahrenen Kilometer, sprich die Straßennut­zung, berücksich­tigt“, sagte er. „In diesem System wäre eine europaweit­e Pkw-Maut ein Element.“Ähnlich äußerte sich Thilo Schäfer vom arbeitgebe­rnahen Institut der deutschen Wirtschaft. „Eine Umgestaltu­ng in Richtung Klimaschut­z könnte bedeuten, die bisherige Energieste­uer zu ersetzen“, sagte Schäfer. Ein Teil solle durch eine CO -Steuer auf

2 den Spritpreis ersetzt werden, der andere durch eine neue, streckenab­hängige Pkw-Maut. „Wer viel Auto fährt, beanspruch­t die Infrastruk­tur auch mehr als andere. Es ist deshalb folgericht­ig, wenn man durch die Maut mehr bezahlt“, sagte Schäfer. Autos und Lastwagen verursacht­en enorme Umweltund Klimaschäd­en, sagte auch Maria Krautzberg­er, Präsidenti­n des Umweltbund­esamtes. Sie empfehle eine fahrleistu­ngsabhängi­ge Pkw-Maut. „Wer viel fährt, zahlt viel. Wer wenig fährt, zahlt weniger.“Käme es so, würde das Maut-Drama für die Umwelt doch noch ein zukunftswe­isendes Ende finden.

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