Rheinische Post - Xanten and Moers
Auf der Steinbock-Tour über die Alpen
Die Strecke ab Oberstdorf entlang des Allgäuer Hauptkamms ist der vielleicht spektakulärste Höhenweg Deutschlands.
(dpa) Die Pose sitzt: den Kopf stolz erhoben, aufrechte Haltung, die Hörner leuchten im Abendlicht. Ein Bild von einem Bock, vor den samtgrünen Grasflanken der Allgäuer Alpen. Und was machen die Wanderer, die gerade vorbeikommen? Zücken nicht mal mehr ihr Handy, um ihn zu fotografieren. Sie schauen nur kurz rüber und marschieren weiter, hinab zur Hütte am See.
„Wir haben hier eine Steinbock-Garantie“, versprach Thomas Dempfle, der Chef der Alpinschule Oase, vor der Tour. „Wenn die Gäste keine Böcke sehen, bekommen sie ihr Geld zurück. Aber zahlen mussten wir noch nie.“Es klang wie Prahlerei, Werbegewäsch für einen Höhenweg, dem die Bergschulen in Oberstdorf den Namen Steinbock-Tour gaben.
Gut 38 Kilometer weit führt der Weg entlang des Allgäuer Hauptkamms, 2800 Höhenmeter rauf und wieder runter, durch Schluchten und Bergwald, über Wiesenkämme und Felsgrate, von
Hütte zu Hütte. Früher hieß die Tour schlicht Allgäu-Durchquerung und war nochmal ein gutes Stück länger. Doch eine der weggefallenen Etappen dauerte neun Stunden, zu viel für die Gäste der Bergschulen.
Anspruchsvoll bleibt der Weg – und hochalpin. Man studiert besser die Wettervorhersage. Oder fragt den Experten bei der Alpinschule. Der rät, die Route umzudrehen. Denn das gute Wetter in den folgenden zwei Tagen brauche man für den Heilbronner Weg, die Königsetappe.
Statt die Seilbahn zum Fellhorn oder zur Kanzelwand zu nehmen und zur Fiderepasshütte zu laufen, geht es somit in Spielmannsau los. Die meisten Wanderer, die morgens den gleichen Bus genommen haben, werden den E5 machen, die beliebte Alpenüberquerung von Oberstdorf nach Meran.
Um sich langsam warmzulaufen, ist der Zustieg perfekt. Sanft steigt der Weg an durch den Sperrbachtobel, eine wilde Schlucht. Hinter dem Talschluss erhebt sich der Muttlerkopf.
„Wenn die Gäste keine Böcke sehen, bekommen sie ihr Geld zurück. Aber zahlen mussten
wir noch nie“
Bald weitet sich die Schlucht zum Talkessel: ein Amphitheater aus buckligen Wiesenhängen, von der Natur terrassiert, überragt von schroffen Türmen. Durch Felsrinnen plätschern Bäche herab, im Gras mümmeln Murmeltiere. Und auf dem Logenplatz einer Kuppe sitzt die Kemptner Hütte.
Für den vielgepriesenen Rinderbraten „Hüttenart“mit Spätzle, Blaukraut und Preiselbeeren ist es noch zu früh. Also marschiert die Gruppe weiter, hinauf zum Mädelejoch, dessen Hügelchen aussehen wie Druidengräber. Hier zweigt der
E5 ab, es wird ruhiger.
Durch Gras und Geröll führt der Weg unterhalb der Felsgrate des Kratzers entlang, manchmal ausgesetzt. Tief hängende Wolken nähern sich und verstärken das hochalpine Gefühl. Und dann, hinter einer Kuppe, stehen plötzlich die ersten Steinböcke. Ein halbes Dutzend stakst zwischen Felsen umher, schnuppert im Geröll, rupft ein paar Halme. Die Tiere sind vielleicht 20 Meter entfernt, aber die Wanderer scheinen sie nicht zu stören.
Rucksäcke schultern und weiter. Allerdings nicht weit. Ein rotes „M“im Fels zwingt zu einer schwierigen Entscheidung. Es zeigt die Aufstiegsroute zur Mädelegabel an, mit 2645 Metern zwar nur der vierthöchste, aber vielleicht der berühmteste Gipfel der Allgäuer Alpen. Eine Kletterei der Stufe I, ein Abstecher von mindestens einer Stunde.
Lohnt sich das? Nein, nicht bei diesen Wolken. Und der Weg bis zum Waltenbergerhaus zieht sich. Die Gruppe quert den Schwarzmilzferner, den kläglichen Rest des letzten Allgäuer Gletschers, steigt hinauf zur Bockkarscharte und über einen steilen Schotterhang in endlosen Serpentinen hinab zur Hütte.
Die hellen Schindeln leuchten schon von weitem durch den Nebel. Das Waltenbergerhaus ist brandneu, der halbrunde Holzbau mit Pultdach wurde erst im Juni 2017 eröffnet. Die Zimmer und Bäder sind hell und großzügig, der Speisesaal hat große Panoramafenster, gepolsterte Eckbänke und minimalistisch designte Stühle. Das wecke bei einigen Gästen falsche Erwartungen, sagt Hüttenwirt Markus Karlinger,
55, breites Lächeln, grauer Stoppelbart, die Schultern und Arme eines Kletterers. „Manche wollen Cappuccino. Aber die Maschine würde zu viel Strom fressen.“
Früher war Karlinger Wirt im Lechtal. Als vor acht Jahren das Waltenbergerhaus frei wurde, griff
Thomas Dempfle
Alpinschule Oase
er zu. Und war schockiert. „Die Hütte war in einem desolaten Zustand, sie wurde lange nicht instand gehalten.“Die Behörden bemängelten den Brandschutz und das Lebensmittellager im Keller. Wie bei ähnlichen Fällen in den Alpen wurde jahrelang über eine Lösung diskutiert. „Die Hardliner wollten die alte Hütte unbedingt erhalten“, erzählt ein Bergführer. „Aber sie war den Gästen kaum noch zuzumuten.“Am Ende entschied die zuständige Sektion des Alpenvereins, die alte Hütte abzureißen und eine neue zu bauen.
Als einzige Hütte in den Allgäuer Alpen wird das Waltenbergerhaus mit dem Helikopter versorgt. Brot und Eier werden weiterhin zu Fuß hochgetragen – von Gästen, denen Karlinger dafür einen Schnaps ausgibt. Die meisten von ihnen kommen für den Heilbronner Weg, eine Paradetour und die Etappe des nächsten Tages.
Die Morgensonne vergoldet bereits die Bergspitzen, als es den Geröllhang vom Vorabend wieder hinauf geht. Perfektes Bergwetter ist angesagt. Also doch nochmal über den Minigletscher zurück, Rucksäcke an einer Scharte zurücklassen und auf die Mädelegabel kraxeln. Die Kletterei ist herrlich, und der Rundumblick vom Gipfel ist den Abstecher absolut wert – auf die benachbarte Trettachspitze, auf den Großen Widderstein und den Ifen, und auf den Grünten.
Die grandiosen Panoramen begleiten den ganzen Tag. Der Heilbronner Weg führt über Felsgrate, die auf beiden Seiten Hunderte Meter abfallen, auf den Gipfel des Bockkarkopfs und über eine Sprossenbrücke zum 2615 Meter hohen Steinschartenkopf. Stahltreppchen, Leitern und Seile entschärfen steile und ausgesetzte Passagen, Klettersteig-Ausrüstung braucht man nicht. Entsprechend beliebt ist der Weg. Das Grüßen nimmt kein Ende.
Auch deshalb wird es später Nachmittag, bis sich die Wanderer durch den Felsspalt des Heilbronner Thörles zwängen und über Wiesenhügel absteigen. Das Hohe Licht, der zweite Zusatzgipfel, wird ausgespart. Stattdessen warten Fotos bei der nächsten Steinbock-Bande.
Vor der Kulisse des glitzernden Rappensees spaziert man schließlich
hinab zur gleichnamigen Hütte. Kaltes Weißbier, See- und Bergblick auf der Terrasse – besser wird es nicht. Außer vielleicht nachts, wenn die Milchstraße am schwarzen Himmel glimmt.
Der Rest ist Auslaufen im Auenland, über Wiesenhänge und durch Latschenkiefern, vorbei an sanften Bächen und schilfumstandenen Tümpeln. Vögel zwitschern, Kühe bimmeln, Frösche hüpfen über den Weg. Nach der Schroffheit der Felsberge springt einen die Lieblichkeit geradezu an. Auf der anderen Seite des Rappenalptals, auf der Mindelheimer Hütte und dem Krumbacher Höhenweg, denkt man zurück an all die Gipfel und Grate der vergangenen Tage. Nur einer fehlt nun: der Steinbock.