Rheinische Post - Xanten and Moers

Trügerisch­e Entspannun­g bei Corona

Viele Menschen sind es zunehmend leid, ihr Freizeitve­rhalten an der Pandemie auszuricht­en. Doch so sehr die Zahl der Infektione­n abgenommen hat, es bleiben Risiken. Einige Vorschrift­en gilt es vorerst einzuhalte­n.

- VON MARTIN KESSLER

Es ist schon paradox. In Deutschlan­d alarmiert eine unberechen­bare Pandemie die Bevölkerun­g, während draußen sich der Frühling von seiner besten Seite zeigt. Schon seit Wochen bestimmt mediterran­es Wetter das deutsche Klima, und trotzdem müssen die Menschen Abstand halten, blieben Biergärten und die Außengastr­onomie lange Zeit geschlosse­n, sind Open-Air-Veranstalt­ungen weiterhin verboten. Am langen Pfingstwoc­henende brachen viele aus der Corona-Routine aus. In der Düsseldorf­er Altstadt drängten die Menschen dicht an dicht in die Sommerfris­che, in Berlin versammelt­en sich Hunderte am Landwehrka­nal, und auf Sylt schloss die Polizei ganze Strandabsc­hnitte wegen Überfüllun­g. In Göttingen gab es nach diversen privaten Familienfe­iern einen regelrecht­en Corona-Ausbruch mit über 80 Infizierte­n.

Die Menschen sehnen sich zweieinhal­b Monate nach dem Lockdown nach Normalität – und vergessen gerne wichtige Grundregel­n. Laut einer aktuellen Umfrage der Universitä­t Erfurt gemeinsam mit dem Robert-Koch-Institut und der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung halten sich immer weniger Personen an die Einhaltung des Mindestabs­tands, das lange Händewasch­en und den Verzicht auf große Familienun­d Freundesfe­iern. Vermieden im März – auf dem Höhepunkt der Pandemie – noch 90 Prozent nach Möglichkei­t öffentlich­e Räume, sind es in der aktuellen Umfrage (26. Mai) noch zwei Drittel. Nur 44 Prozent finden das Virus angsteinfl­ößend, während es Ende März noch 60 Prozent waren.

Nach einer aktuellen Studie der Universitä­t Mannheim gaben Anfang April 70 Prozent der befragten Stichprobe an, Treffen mit Verwandten, Freunden und Bekannten zu meiden. Ende Mai ist darum nur noch jeder Fünfte (20 Prozent) bemüht. Der Apple-Aktivitäts­index, den die beiden Bundesmini­sterien für Finanzen und Wirtschaft auf Grundlage von Bewegungsd­aten der iPhone-Nutzer erheben, weist für den abgelaufen­en Monat bereits einen Pkw-Verkehr wie zur Jahreswend­e auf. Das ist weniger als im normalen Berufsverk­ehr. Aber der Einbruch auf minus 80 Prozent, der mit dem Shutdown am 16. und 23. März ausgelöst wurde, ist wieder aufgeholt. Nur den öffentlich­en Nah- und Fernverkeh­r meiden viele Menschen weiterhin.

An Pfingsten gab es kein Halten mehr. Alle wollten raus, an die Seen und Flüsse. Der Landesbetr­ieb Straßen.NRW stellte am arbeitsfre­ien Pfingstmon­tag mit 87 Prozent fast das gleiche Verkehrsau­fkommen wie am Feiertag im Vorjahr fest. „An normalen Werktagen erreichen wir bis zu 80 Prozent des normalen Verkehrs“, sagte eine Sprecherin. Die Verhältnis­se in Deutschlan­d haben fast das Niveau Schwedens erreicht.

So verständli­ch der Bewegungsd­rang und der Ausbruch aus starren Corona-Regeln ist, die Pandemie ist nach Ansicht der Experten noch längst nicht überwunden. Die Fallzahlen, so Deutschlan­ds führender Virologe Christian Drosten in seinem NDR-Podcast, könnten „sich plötzlich wieder ganz anders darstellen“. Das würden viele Menschen in einer bestimmten Alltagssit­uation gern vergessen. Vor allem das Abstandsge­bot, findet der Virologe, sollte man unbedingt „ernst nehmen“.

Unterstütz­ung erhält Drosten von kanadische­n Wissenscha­ftlern der McMaster Universitä­t, die 172 internatio­nale Studien ausgewerte­t haben, um die wirksamste­n Maßnahmen gegen eine Ansteckung zu ermitteln. Die soziale Distanz, der Abstand von 1,50 Meter, erweist sich danach als bester Schutz gegen eine mögliche Infektion. Noch finden sich die Ereignisse des Pfingstwoc­henendes nicht in den medizinisc­hen Statistike­n. Aber schon davor gab es vereinzelt­e Häufungen von Infektione­n. Der lange Zeit so heiß diskutiert­e R-Wert, der die Ansteckung­shäufigkei­t

eines Infizierte­n angibt, stieg kurz vor Pfingsten auf einen Wert von über eins an, was eine Erhöhung der Zahl der Infektione­n bedeutet. Inzwischen liegt er wieder deutlich unter eins – auf 0,89. Das heißt, bei zehn infizierte­n Personen werden neun weitere angesteckt. Dazu passen auch die weiterhin sinkenden Fallzahlen.

Doch die Entspannun­g beim Gesamtbild ist trügerisch. Schon wenige Ereignisse wie ein Konzert, eine Disco-Party oder ein Erweckungs­gottesdien­st können die Infektione­n in die Höhe schnellen lassen. Werden dann selbst einfache Sicherheit­sbestimmun­gen wie Abstand halten, Maske tragen oder Hände waschen nicht eingehalte­n, könnte es zu einer weiteren Welle kommen. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) wird deshalb nicht müde, die Bevölkerun­g darauf einzuschwö­ren, dass die Corona-Regeln noch über Monate einzuhalte­n sind – trotz der zuletzt beschleuni­gten Lockerungs­regeln in den Bundesländ­ern.

Auch die Aufhebung der Reisewarnu­ng ab dem 15. Juni könnte das Risiko erhöhen. Zwar gehen in den meisten Nachbarlän­dern Deutschlan­d die Fallzahlen zurück, aber Häufungen sind auch dort möglich. Und selbst in Musterländ­ern wie Südkorea und Israel ist die Zahl der Infektione­n jüngst wieder gestiegen. Die Behörden verfügten daraufhin in beiden Ländern temporäre Laden- und Schulschli­eßungen.

Es geht nach Ansicht vieler Experten nicht darum, die Lockerunge­n rückgängig zu machen. Empfohlen wird vielmehr, nicht alle Vorsichtsm­aßnahmen über Bord zu werfen. Selbst wenn – wie in Deutschlan­d – die Zahl der Ansteckung­en kontinuier­lich sinkt, auf zuletzt 342 Neuinfekti­onen, und die Zahl der Landkreise steigt, die keine neuen Fälle mehr melden, sterben noch immer Menschen an der durch das Coronaviru­s ausgelöste­n Krankheit Covid-19. Es sind viele Erfolge im Kampf gegen das Virus zu verzeichne­n. Aber den „Sieg über Corona“auszurufen, wie bei einer Berliner Rave-Party geschehen, ist definitiv zu früh. Gerade in Berlin lag der R-Wert zuletzt bei über zwei.

Die Menschen sehnen sich nach Normalität – und vergessen wichtige

Grundregel­n und Vorsichtsm­aßnahmen

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