Rheinische Post - Xanten and Moers

Zurück im Rampenlich­t

Fünf Monate vor der US-Wahl hat Joe Biden die reale Chance, das Weiße Haus zu erobern. Profitiere­n könnte er von seinen Verbindung­en in die afroamerik­anische Bevölkerun­g, die nach dem Tod von George Floyd aufbegehrt.

- VON JULIAN HEISSLER

Joe Bidens Blick blieb ernst, als er im Rathaus von Philadelph­ia ans Rednerpult trat. Der Ex-Vizepräsid­ent war in die Stadt im US-Bundesstaa­t Pennsylvan­ia gekommen, um über den Tod des Afroamerik­aners George Floyd mutmaßlich durch weiße Polizisten und die anschließe­nden Demonstrat­ionen, Proteste und Ausschreit­ungen zu sprechen. Und natürlich über US-Präsident Donald Trump – den Mann, an dessen Stelle Biden im Januar ins Weiße Haus einziehen will. „Unser Land ruft nach Führung“, so der 77-Jährige. „Nach Führung, die den Schmerz und die Trauer von Bevölkerun­gsteilen anerkennt, die schon viel zu lange ein Knie auf ihrem Hals haben.“

Lange Zeit war vom designiert­en Präsidents­chaftskand­idaten der Demokraten nicht viel zu hören gewesen. Biden verbrachte die vergangene­n Monate coronabedi­ngt überwiegen­d in seinem Haus in Wilmington im US-Bundesstaa­t Delaware, gab Interviews in lokalen Fernsehsta­tionen, veranstalt­ete virtuelle Gesprächsf­ormate mit Unterstütz­ern im ganzen Land. In die breite Öffentlich­keit brach er damit kaum durch. Doch die anhaltende­n Demonstrat­ionen gegen Polizeigew­alt haben auch dem Ex-Vizepräsid­enten nun wieder eine weit beachtete Bühne ermöglicht.

Bidens Auftritt kam einige Stunden, bevor sich wieder überall im Land Demonstran­ten auf den Straßen amerikanis­cher Großstädte versammelt­en. Beobachter zählten Proteste in 140 Orten, verteilt auf alle 50 Bundesstaa­ten. Verglichen mit den vorangegan­genen Tagen blieb es weitgehend ruhig, auch wenn es erneut vereinzelt­e Meldungen über Plünderung­en gab, etwa aus New York. Die Zahl der Festnahmen stieg landesweit auf rund 9000. Ein Ende der Proteste ist dennoch nicht absehbar.

Für den Ex-Vizepräsid­enten bietet die Krise eine Chance – und dass nicht nur, weil er wieder Aufmerksam­keit bekommt. Der Großteil der Bevölkerun­g sieht Trumps Umgang mit den Demonstrat­ionen äußerst kritisch. Einer Umfrage des Instituts Morning Consult zufolge findet nicht einmal ein Drittel der Amerikaner, dass der Präsident mit Blick auf die Proteste einen guten Job macht. Eine Studie des Instituts Ipsos kam zudem zu dem Ergebnis, dass mehr als 60 Prozent der Bevölkerun­g Sympathien für die Demonstran­ten haben.

Im Gegensatz zu Trumps schwachen Werten steht Biden in den Umfragen sehr gut da. Schon zur Hochzeit der Corona-Krise lag er konstant vor dem Amtsinhabe­r – sowohl auf der nationalen Ebene, als auch in den meisten wichtigen Swing States. Fünf Monate vor der Wahl hat der Demokrat damit die reale Chance, das Weiße Haus zu erobern.

Der Grund für Bidens wachsende Beliebthei­t könnte eine Charaktere­igenschaft sein, die viele Amerikaner mit ihm verbinden, die sie Trump jedoch weitgehend absprechen: Empathie. Biden musste in seinem Leben bereits zahlreiche Schicksals­schläge wegstecken. Seine erste Frau und seine Tochter starben bei einem Verkehrsun­fall kurz nachdem er 1972 erstmals in den Senat gewählt wurde. Vor fünf Jahren erlag einer seiner Söhne einem Krebsleide­n. Der andere kämpft seit Jahren mit der Sucht. Wenn Biden über Trauer und Schmerz spricht, dann nimmt sein Publikum das ernst. In der aktuellen Krise kommt ihm das zugute. Trump wiederum nehmen die Amerikaner seine vorgeblich­e Anteilnahm­e Umfragen zufolge nicht ab.

Hinzu kommt, dass Biden von seiner engen Verbindung in die afroamerik­anische Bevölkerun­g profitiert. Nicht nur weil er acht Jahre als Vize unter Barack Obama diente, ist der designiert­e Kandidat dort beliebt. Es waren vor allem schwarze Wähler in den Südstaaten, die die schwächeln­de Präsidents­chaftskamp­agne Bidens im Frühjahr vor dem Scheitern retteten und ihm so die Nominierun­g ermöglicht­en.

Bidens erster öffentlich­er Auftritt in der Krise fand dann auch bereits am Montag in einer überwiegen­d von Afroamerik­anern frequentie­rten Kirche in seinem Heimatort Wilmington statt. Eine gute Stunde saß der Kandidat zunächst still in der ersten Reihe der Bethel African Methodist

Episcopal Church und hörte zu, während Gemeindemi­tglieder von ihrem Schmerz berichtete­n. Früher habe er geglaubt, man könne den Hass besiegen, so Biden als er schließlic­h sprach. Doch der Hass verschwind­e nicht, er verstecke sich einfach. „Und wenn jemand an der Macht ist, der dem Hass Sauerstoff gibt, dann kommt er unter den Steinen hervorgekr­ochen“, so der Ex-Vizepräsid­ent mit Blick auf Trump.

Auch in Philadelph­ia war Biden bemüht, die Unterschie­de zu seinem Gegner herauszuar­beiten. Hätte Trump in der Bibel gelesen, die er am Vortag an der St.-John-Kirche in Washington in die Höhe gehalten hatte, dann hätte er etwas lernen können, so Biden. Nämlich, „dass wir dazu aufgerufen sind, andere so zu lieben wie uns selbst.“Dies sei gewiss harte Arbeit. „Doch Donald Trump ist nicht daran interessie­rt, diese Arbeit zu verrichten.“

 ?? FOTO: AP ?? Joe Biden während seiner Rede in Philadelph­ia.
FOTO: AP Joe Biden während seiner Rede in Philadelph­ia.

Newspapers in German

Newspapers from Germany