Rheinische Post - Xanten and Moers

„Wir neigen zum Unterton moralische­r Überlegenh­eit“

Der Freiburger Historiker erklärt, warum das Erbe des Ersten Weltkriegs in Osteuropa so lebendig ist – und welche Folgen Trianon für die Politik bis heute hat.

- FRANK VOLLMER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Professor Leonhard, wie konnte sich der Friedensve­rtrag mit Ungarn, der 1920 im Grand Trianon von Versailles unterzeich­net wurde, als kulturelle­s Trauma und politische­s Thema bis heute halten?

Das hat zunächst mit den konkreten Bestimmung­en des Friedensve­rtrags zu tun – Ungarn verliert zwei Drittel seines Territoriu­ms und ein Drittel seiner Bevölkerun­g. Beim Vertrag von Versailles mit dem Deutschen Reich reden wir von etwas mehr als zehn Prozent des Territoriu­ms. Der zweite Grund ist: Nach Trianon existierte­n in allen wichtigen Nachbarsta­aten Ungarns große ungarische Minderheit­en. Bis heute.

Was heißt das für die Politik?

Immer wieder ließ sich eine besondere Verantwort­ung der ungarische­n Führung für diese Minderheit­en fordern, und Viktor Orbán stellt seine Politik genau in diese Tradition einer politische­n Schutzfunk­tion Ungarns.

Das heißt, der Nationalis­mus von 1920 ist derselbe wie 2020?

Nach 1920 ist dieser Nationalis­mus

in seiner revisionis­tischen Ausrichtun­g sehr aggressiv, denken Sie nur an den Antisemiti­smus, der die ungarische­n Juden nach 1920 verantwort­lich machte für die Ergebnisse von Trianon. Orbán operiert heute eher mit antisemiti­schen Untertönen. Sein Nationalis­mus steht zudem in anderen Kontexten: als Sicherheit­sversprech­en gegenüber der eigenen Bevölkerun­g angesichts der Globalisie­rung oder der Flüchtling­skrise.

Welche Rolle spielt der Zweite Weltkrieg? In Deutschlan­d hat er die Erinnerung an den Ersten lange Zeit in den Hintergrun­d gedrängt.

In Ungarn wurde die Geschichte von Trianon gleichsam traumatisc­h fortgeschr­ieben – das Land lehnte sich mit seinem Revisionis­mus eng an Hitlers Aggression­spolitik gegen die Friedensor­dnung von 1919 an. So gewann Ungarn zwar im Fahrwasser der deutschen Kriegspoli­tik einen Großteil der verlorenen Gebiete wieder, zum Beispiel in Siebenbürg­en. Doch der Preis war hoch: An der Ostfront kämpften auf deutscher Seite 200.000 ungarische Soldaten, und nach 1945 verlor Ungarn die Gebiete ein zweites Mal.

Und jetzt mischt selbst ein eher besonnener Mann wie Rumäniens Präsident Klaus Johannis mit und beschimpft seine ungarische Minderheit. Warum nur?

Es lässt sich eben nicht alles mit dem Verweis auf den Nationalis­ten Orbán erklären. In allen Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg neu entstanden wie die Tschechosl­owakei oder Jugoslawie­n oder die neue Gebiete und Bevölkerun­gsgruppen zugesproch­en bekamen wie Polen und Rumänien, blieb die Angst vor einer Destabilis­ierung durch nicht assimilier­te ethnische Minderheit­en groß. Gerade politische Sieger wie Rumänien waren von der latenten Unsicherhe­it geprägt, und Johannis‘ Äußerungen zeigen, wie stark diese historisch­e Erfahrung bis heute weiterwirk­t.

Hat der Kommunismu­s diese Nationalit­ätenkonfli­kte nur eingefrore­n? Oder war Osteuropa nach 1945 tatsächlic­h befriedet?

Befriedet höchstens in dem Sinne, dass die Konfrontat­ion der Blöcke einen neuen Weltkrieg verhindern konnte – aber das zu einem sehr hohen Preis, nämlich der Unfreiheit und des Verlusts staatliche­r Souveränit­ät. Der Widerstand gegen die von der Sowjetunio­n gewaltsam durchgeset­zten „Volksrepub­liken“speiste sich dabei aus unterschie­dlichen nationalen Quellen: in Ungarn geht es eher um die eigene Staatstrad­ition und das Opfermotiv, in Polen um die Identifika­tion mit der katholisch­en Kirche.

Mit den Vorortvert­rägen scheitert auch ein universale­r Ansatz – die großen Reiche zerbrechen. Ging in Osteuropa das universale Zeitalter damals endgültig zu Ende?

Die Erfahrung vieler Staaten Ost- und Ostmittele­uropas nach 1918, staatliche Souveränit­ät neu- oder wiederzuge­winnen und nach 1945 wieder zu verlieren, hat sehr stark nachgewirk­t, bis 1989 und darüber hinaus. Es hat diese Gesellscha­ften auch sensibilis­iert gegen große, homogenisi­erende Utopien.

Setzen Sie gerade die EU in eine Linie mit der Sowjetunio­n?

Sicher nicht, aber man muss verstehen, warum gerade in Polen oder Ungarn so empfindlic­h auf eine wahrgenomm­ene Aushöhlung nationaler Souveränit­ät reagiert wird. Das hat viel mit den traumatisc­hen Erfahrunge­n im 20. Jahrhunder­t zu tun. Und es hilft uns, diese Gesellscha­ften besser zu verstehen, auch wenn man die politische­n Entwicklun­gen kritisiert.

Müssten gerade wir Deutschen das verstehen, deren politische Kultur so stark von der Geschichte geprägt ist?

Wir neigen in der Bundesrepu­blik vielleicht etwas stark dazu, unsere eigene Erfahrung zu stark in den Vordergrun­d zu stellen, manchmal auch mit dem Unterton moralische­r Überlegenh­eit. Der Abschied von der national bestimmten Souveränit­ät durch politische, wirtschaft­liche, kulturelle und militärisc­he Westbindun­g war Adenauers Antwort auf die Frage, wie eine internatio­nale Rolle Westdeutsc­hlands überhaupt wieder möglich werden konnte. Weil die Bundesrepu­blik als ein „semisouver­äner Staat“ziemlich erfolgreic­h war, ist vielen Deutschen der Gedanke ziemlich fremd, Souveränit­ät gegen Brüssel zu verteidige­n. Die Wirkung der Katastroph­engeschich­te Deutschlan­ds nach 1933 hat sich in etwas ganz anderes übersetzt als im Falle der Gesellscha­ften Ost-, Ostmittel- und Südosteuro­pas. Diese Unterschie­de muss man verstehen, und man muss sie aushalten.

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Jörn Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universitä­t Freiburg. Von ihm ist erschienen: „Der überforder­te Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923“.
FOTO: IMAGO IMAGES Jörn Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universitä­t Freiburg. Von ihm ist erschienen: „Der überforder­te Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923“.

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