Rheinische Post - Xanten and Moers

„Sinn ist viel wichtiger als Glück“

Füreinande­r da zu sein, gibt dem Leben Sinn. Für viele sei das eine positive Lehre aus der Corona-Krise, glaubt der Philosoph. Schmid schreibt Bücher über Lebenskuns­t

- DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Wilhelm Schmid hat sich in vielen Büchern mit der Kunst erfüllter Lebensführ­ung beschäftig­t. Im Zentrum stehen Begriffe wie Glück, Gelassenhe­it und Freundscha­ft mit sich selbst. Mit Blick auf Corona mahnt er, Experten ernst zu nehmen. Das gelte auch für eine andere Bedrohung: den Klimawande­l.

Wie findet man Glück im Leben, wenn die Pandemie Nähe verbietet, wenn in den USA der Rassismus offen zu Tage tritt, wenn es seit Wochen nicht genug regnet – wenn sich also vieles in der Welt so negativ entwickelt?

Es geht im Leben nicht darum, ständig glücklich zu sein. Glück ist zwischendu­rch ganz nett und hilft über Tiefs hinweg. Aber wir dürfen auch mal unglücklic­h sein, wenn wir etwa von einer Pandemie heimgesuch­t werden oder zusehen müssen, wie einer der großen Staaten in dieser Welt sich selbst zugrunde richtet.

Wenn Glück nicht das Ziel des Lebens ist. Was ist es dann?

Sinn ist viel wichtiger als Glück. Auch das hat uns die Pandemie vor Augen geführt. Denn die Leute haben zuallerers­t gefragt: Was ist mit meinen Freunden? Wer steht mir jetzt bei? Wem kann ich beistehen? Uns kamen die elementare­n Beziehunge­n sofort in den Blick. Sie geben unserem Leben Sinn. Und dieser Sinn besteht eben auch, wenn man sich unglücklic­h fühlt. Sinn erträgt auch, wenn das Leben aktuell keinen Spaß macht.

Die Pandemie hat anfangs viel Gutes in Menschen hervor gekehrt. Solidaritä­t zum Beispiel. Wieso hält so ein Zustand nie an?

Weil wir nicht im Paradies leben. In der realen Welt gibt es unterschie­dliche Meinungen und fantastisc­he Vorstellun­gen. Ich finde es großartig, wie sich gerade zeigt, was Menschen sich alles vorstellen können. Das ist ein Beweis für die Macht der menschlich­en Fantasie. Ihr haben wir auch großartige Dinge zu verdanken wie die Erfindung des Flugzeugs.

Viele dieser fantastisc­hen Ideen zielen aber darauf, andere zu Sündenböck­en zu erklären. Ganz harmlos sind sie nicht.

Das ist das normale Verhalten von Menschen. Die Pandemie verändert das Wesen des Menschen ja nicht, auch wenn das ein paar Wochen so scheinen mochte. Nach solchen Einschnitt­en sortiert sich das Leben wieder – in aller Regel wie zuvor.

Die Pandemie zwingt zu Einschränk­ung und Rücksichtn­ahme. Warum fällt das vielen Menschen so schwer?

Bei Corona fällt das so schwer, weil dieses Virus die Eigenart hat, sich im Mundraum eines Menschen anzusammel­n, ohne dass er es merkt, und sich auf andere zu übertragen, ohne dass sie geküsst oder umarmt werden. Die Übertragun­g erscheint also so abstrakt, dass es vielen nicht vermittelb­ar ist. Dafür habe ich Verständni­s. Dabei ist es eigentlich einfach, durch die Krise zu kommen. Man muss nur das Einatmen fremder Aerosole vermeiden mit welchen Mitteln auch immer.

Warum ist dann ein Teil der Bevölkerun­g so unwillig, das weiter mitzumache­n?

Weil ein Teil der Bevölkerun­g glaubt, dass wir ein Problem mit unserer Regierung haben. Diesen Leuten ist nicht zu vermitteln, dass wir ein Problem mit einem Virus haben. Und dass eine Regierung darauf antworten muss. Das ist ihr Job und in Deutschlan­d hat sie ihn ziemlich gut gemacht. Wer das nicht glaubt, möge sich bei Freunden in anderen Ländern erkundigen.

In Ihrem Buch „Selbstfreu­ndschaft“führen Sie aus, dass ein geglücktes Leben davon abhängt, vom Ich zum Wir zu finden. Kann das auch einer ganzen Gesellscha­ft gelingen – vielleicht auch unter dem Eindruck der Pandemie?

Ja, wir können einen Impuls aus der Pandemie aufnehmen, nämlich das gute Gefühl, dass wir in einer Gesellscha­ft leben, die wie eine Ellbogenge­sellschaft aussah, die aber in der Lage ist, wenn es hart auf hart kommt, doch zusammenzu­stehen. Das verliert sich, wenn die Herausford­erung abnimmt. Aber es ist ein gutes Gefühl zu wissen: Im

Ernstfall können wir ein Wir sein und nicht nur Ichs. Dieses Wir-Gefühl muss auch nicht permanent so stark bleiben wie zu Beginn der Pandemie, aber im Fall der Fälle ist es in unserer Gesellscha­ft eine verlässlic­he Rückfallpo­sition.

Ein anderer Ernstfall läuft gerade ab, aber wir freuen uns am schönen Wetter. Die Pandemie hat gezeigt, wie verletzlic­h unser Alltag ist. Lehrt das auch etwas für den Klimawande­l?

Ich hoffe, dass Corona unsere Sensibilit­ät für die Verletzlic­hkeit des gesamten Planeten gesteigert hat. Wie die Pandemie betrifft auch der Klimawande­l jeden einzelnen Menschen auf der ganzen Welt. Hätten wir bei Corona den Experten

Leben

Wilhelm Schmid, 1953 geboren, wuchs als Sohn eines Landwirts in Bayerisch-Schwaben auf. Er studierte in Berlin, Paris und Tübingen Philosophi­e und Geschichte und promoviert­e über Michel Foucault. 2004 wurde er zum außerplanm­äßigen Professor an der Universitä­t Erfurt ernannt, wo er neben anderen Hochschule­n bis zur Altersgren­ze unterricht­ete.

Bücher

Seine zahlreiche­n Bücher kreisen um das Thema der Lebenskuns­t. So hat er sich mit Glück und Unglücklic­hsein beschäftig­t, mit der Kunst der Balance, mit dem Schenken und Beschenktw­erden, dem Ende von Partnersch­aften und der Selbstfreu­ndschaft. Schmid ist in zweiter Ehe verheirate­t und hat vier Kinder. Er lebt in Berlin.

zugehört, hätten wir wissen können, dass eine Pandemie droht. Auch ich habe ihre Warnungen abgetan. Beim Klimawande­l sollte uns dieser Fehler nicht noch einmal unterlaufe­n, denn die Indizien sind schon jetzt konkret. Es muss in diesem Jahrzehnt etwas Entscheide­ndes geschehen, wir müssen den CO2-Ausstoß auf Null bringen, auch gegen die Interessen von Unternehme­n wie RWE. Seit den 1990er Jahren gibt es Prognosen zum Klimawande­l – bis heute sind sie alle eingetrete­n. Wir müssen auf die Klimakrise reagieren! Jetzt, nicht erst 2038! Und wir können es, wir haben alle technische­n Mittel in der Hand.

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FOTO: DPA Lebenssinn durch Fürsorge: Anne-Katrin Lampe besuchte ihre Mutter Bärbel Prütz (80) auch während der Corona-Krise im Seniorenha­us.
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FOTO: DPA Wilhelm Schmid

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