Rheinische Post - Xanten and Moers
Mad in Germany
Die großartige Punkband Östro 430 wird wiederentdeckt. Sie schildert das Leben in den 1980er Jahren aus weiblicher Perspektive.
Soeben ist eine Platte erschienen, die wunderbar in diese Zeit passt, Musik zur Lage der Nation sozusagen. Die Düsseldorfer Punkrock-Band Östro 430 hat sie veröffentlicht. „Keine Krise kann mich schocken“heißt das Album sehr treffend, und darauf gibt es ein Lied namens „Plastikwelt“, das sich so anhört: „Perfektioniert, funktionalisiert, rationalisiert / Gefühle aus der Dose / Mit viel, viel, viel Polyacryl / Sieh dich um, wie’s dir gefällt / In deiner Spastik-Plastik-Welt“.
„Sie standen auf der Bühne und ballerten einfach los“
Campino (Die Toten Hosen)
Das Verblüffende ist, dass diese frisch anmutenden Songs gar nicht neu sind. Sie wurden zwischen 1981 und ‘83 aufgenommen. Die aktuelle Plattenveröffentlichung ist die Wiederentdeckung eines Quartetts, das den legendären Ratinger Hof in der Düsseldorfer Altstadt noch von innen gesehen hat. Campino erinnert sich in seinem Begleittext zum Album an die Östro-Konzerte: „Sie standen auf der Bühne und ballerten einfach los.“Man hört dem Satz an, dass es ihm gefallen hat: „Ich komme aus demselben Sumpf.“
Östro 430, das waren Martina Weith, Birgit Köster, Gisela Hottenroth und Bettina Flörchinger. Letztere trug auf Fotos von damals gerne ein selbstgemachtes T-Shirt mit der Weltklasse-Aufschrift „Mad In Germany“. Sie studierte Medizin und stieg 1983 aus, weil sie ihren Facharzt machte. „Eine Musikkarriere lässt sich mit acht bis zehn Nachtdiensten im Monat nicht vereinbaren“, sagt die heute 62-Jährige. Sie wurde übrigens Gynäkologin, geht ja auch gar nicht anders bei dem Bandnamen. Bis vor Kurzem hatte sie eine Praxis an der Graf-AdolfStraße in Düsseldorf, und nun, pünktlich zum Revival, setzt sie sich zur Ruhe: „Jetzt habe ich wieder Zeit für die Musik.“
Würde es das Coronavirus nicht geben, hätten Östro 430 bereits wieder Konzerte gegeben; sie waren zum Beispiel in Hamburg gebucht, aber alle Termine wurden verschoben. Neben Flörchinger wird auch Sängerin Martina Weith neuerlich auf die Bühne gehen, die anderen beiden verzichten aus gesundheitlichen Gründen. Wie das ist, wenn man Songs spielt, die man 40 Jahre nicht mehr gesungen hat? „Als wäre keine Zeit vergangen“, sagt
Flörchinger.
Das Besondere an Östro 430 sind natürlich die Texte. Sie schildern das Leben aus weiblicher Perspektive. „Triebtäter“zum Beispiel erzählt vom nächtlichen Nachhausegehen, wenn plötzlich ein Kerl von hinten auf einen zugelaufen kommt. Im Song will der Mann nichts Böses, nur die letzte Bahn kriegen, die gleich abfährt. Aber inspiriert sei das Stück von echter Angst, sagt Flörchinger: „Ich habe mir die Ringe der Hausschlüssel für den Fall der Fälle über die Finger gezogen, wenn ich vom Ratinger Hof durch den Hofgarten heimgegangen bin nach Flingern.“
Es gab die Raincoats und die Slits, aber darüber hinaus wenige andere rein weibliche Bands im Punk. Der Mangel wirkte sich auf den Sound von Östro 430 aus: Weil sie keine Gitarristin fanden, die nicht spielen wollte wie Joan Baez, verzichteten sie halt auf eine Gitarre. Stattdessen: Saxofon, Schlagzeug, Keyboard und Bass. Sie probten im Bunker am Kirchplatz, und den Fehlfarben gefiel diese Musik so gut, dass sie Östro 430 einluden, im Vorprogramm ihrer Tour zu spielen.
Was war das für eine Zeit? Flörchinger erzählt, dass sie damals auf dem Weihnachtsmarkt Kasperletheater gespielt habe. Eltern und Kinder hätten während der Vorstellung gelacht und applaudiert, aber als Flörchinger danach mit dem Hut durch die Reihen ging, um Geld zu sammeln, habe sie Sätze gehört wie „Dich hätten sie damals besser mal im KZ vergast.“Der Grund? Flörchinger trug das Haar bunt gestreift. Einmal traten sie als Vorgruppe
der Zeltinger Band in der Uni-Mensa auf. Das größtenteils männliche Publikum begrüßte sie mit Sprüchen wie „Ausziehen!“und „Klamotten runter!“.
Östro 430 sangen über die TVSerie „Dallas“und Gewalt gegen Frauen, von quietschenden Betten und komischen Männern, vom Biertrinken und Sexhaben. „Mit den Typen ist heut’ nichts mehr los / Was dir bleibt, ist deine Hand“heißt es in „Sexueller Notstand“. Erst in den 1990er Jahren habe sie wieder Bands gehört, die ähnlich selbstbewusst und rotzig ihre Themen vortrugen, sagt Flörchinger. Tic Tac Toe zum Beispiel. Sie selbst zählt Patti Smith und Chrissie Hynde zu ihren Hausheiligen. Und natürlich Nina Hagen.
Flörchinger hatte sich komplett aus dem Geschäft zurückgezogen. Manchmal erreichte sie Fanpost in der Praxis, Flaschenpost aus der Vergangenheit. Von dem Herrn etwa, der Fotos von einem Östro-Auftritt schickte und die Ärztin um ein Autogramm bat. Zuletzt häuften sich ähnliche Anfragen. Internet sei Dank: Alte Platten werden wiederentdeckt, vergessene Pionierinnen ins Recht gesetzt.
Bettina Flörchinger freut sich über das neuerliche Interesse. Sie hofft, dass sie bald wieder auftreten kann. In Kürze erscheint erstmal der alte Kracher „Keine Krise kann mich schocken“mit aktualisiertem Text. Die Botschaft: Auch Corona wird ihre Rückkehr zum Punk nicht aufhalten.