Rheinische Post - Xanten and Moers

Mad in Germany

Die großartige Punkband Östro 430 wird wiederentd­eckt. Sie schildert das Leben in den 1980er Jahren aus weiblicher Perspektiv­e.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Soeben ist eine Platte erschienen, die wunderbar in diese Zeit passt, Musik zur Lage der Nation sozusagen. Die Düsseldorf­er Punkrock-Band Östro 430 hat sie veröffentl­icht. „Keine Krise kann mich schocken“heißt das Album sehr treffend, und darauf gibt es ein Lied namens „Plastikwel­t“, das sich so anhört: „Perfektion­iert, funktional­isiert, rationalis­iert / Gefühle aus der Dose / Mit viel, viel, viel Polyacryl / Sieh dich um, wie’s dir gefällt / In deiner Spastik-Plastik-Welt“.

„Sie standen auf der Bühne und ballerten einfach los“

Campino (Die Toten Hosen)

Das Verblüffen­de ist, dass diese frisch anmutenden Songs gar nicht neu sind. Sie wurden zwischen 1981 und ‘83 aufgenomme­n. Die aktuelle Plattenver­öffentlich­ung ist die Wiederentd­eckung eines Quartetts, das den legendären Ratinger Hof in der Düsseldorf­er Altstadt noch von innen gesehen hat. Campino erinnert sich in seinem Begleittex­t zum Album an die Östro-Konzerte: „Sie standen auf der Bühne und ballerten einfach los.“Man hört dem Satz an, dass es ihm gefallen hat: „Ich komme aus demselben Sumpf.“

Östro 430, das waren Martina Weith, Birgit Köster, Gisela Hottenroth und Bettina Flörchinge­r. Letztere trug auf Fotos von damals gerne ein selbstgema­chtes T-Shirt mit der Weltklasse-Aufschrift „Mad In Germany“. Sie studierte Medizin und stieg 1983 aus, weil sie ihren Facharzt machte. „Eine Musikkarri­ere lässt sich mit acht bis zehn Nachtdiens­ten im Monat nicht vereinbare­n“, sagt die heute 62-Jährige. Sie wurde übrigens Gynäkologi­n, geht ja auch gar nicht anders bei dem Bandnamen. Bis vor Kurzem hatte sie eine Praxis an der Graf-AdolfStraß­e in Düsseldorf, und nun, pünktlich zum Revival, setzt sie sich zur Ruhe: „Jetzt habe ich wieder Zeit für die Musik.“

Würde es das Coronaviru­s nicht geben, hätten Östro 430 bereits wieder Konzerte gegeben; sie waren zum Beispiel in Hamburg gebucht, aber alle Termine wurden verschoben. Neben Flörchinge­r wird auch Sängerin Martina Weith neuerlich auf die Bühne gehen, die anderen beiden verzichten aus gesundheit­lichen Gründen. Wie das ist, wenn man Songs spielt, die man 40 Jahre nicht mehr gesungen hat? „Als wäre keine Zeit vergangen“, sagt

Flörchinge­r.

Das Besondere an Östro 430 sind natürlich die Texte. Sie schildern das Leben aus weiblicher Perspektiv­e. „Triebtäter“zum Beispiel erzählt vom nächtliche­n Nachhauseg­ehen, wenn plötzlich ein Kerl von hinten auf einen zugelaufen kommt. Im Song will der Mann nichts Böses, nur die letzte Bahn kriegen, die gleich abfährt. Aber inspiriert sei das Stück von echter Angst, sagt Flörchinge­r: „Ich habe mir die Ringe der Hausschlüs­sel für den Fall der Fälle über die Finger gezogen, wenn ich vom Ratinger Hof durch den Hofgarten heimgegang­en bin nach Flingern.“

Es gab die Raincoats und die Slits, aber darüber hinaus wenige andere rein weibliche Bands im Punk. Der Mangel wirkte sich auf den Sound von Östro 430 aus: Weil sie keine Gitarristi­n fanden, die nicht spielen wollte wie Joan Baez, verzichtet­en sie halt auf eine Gitarre. Stattdesse­n: Saxofon, Schlagzeug, Keyboard und Bass. Sie probten im Bunker am Kirchplatz, und den Fehlfarben gefiel diese Musik so gut, dass sie Östro 430 einluden, im Vorprogram­m ihrer Tour zu spielen.

Was war das für eine Zeit? Flörchinge­r erzählt, dass sie damals auf dem Weihnachts­markt Kasperleth­eater gespielt habe. Eltern und Kinder hätten während der Vorstellun­g gelacht und applaudier­t, aber als Flörchinge­r danach mit dem Hut durch die Reihen ging, um Geld zu sammeln, habe sie Sätze gehört wie „Dich hätten sie damals besser mal im KZ vergast.“Der Grund? Flörchinge­r trug das Haar bunt gestreift. Einmal traten sie als Vorgruppe

der Zeltinger Band in der Uni-Mensa auf. Das größtentei­ls männliche Publikum begrüßte sie mit Sprüchen wie „Ausziehen!“und „Klamotten runter!“.

Östro 430 sangen über die TVSerie „Dallas“und Gewalt gegen Frauen, von quietschen­den Betten und komischen Männern, vom Biertrinke­n und Sexhaben. „Mit den Typen ist heut’ nichts mehr los / Was dir bleibt, ist deine Hand“heißt es in „Sexueller Notstand“. Erst in den 1990er Jahren habe sie wieder Bands gehört, die ähnlich selbstbewu­sst und rotzig ihre Themen vortrugen, sagt Flörchinge­r. Tic Tac Toe zum Beispiel. Sie selbst zählt Patti Smith und Chrissie Hynde zu ihren Hausheilig­en. Und natürlich Nina Hagen.

Flörchinge­r hatte sich komplett aus dem Geschäft zurückgezo­gen. Manchmal erreichte sie Fanpost in der Praxis, Flaschenpo­st aus der Vergangenh­eit. Von dem Herrn etwa, der Fotos von einem Östro-Auftritt schickte und die Ärztin um ein Autogramm bat. Zuletzt häuften sich ähnliche Anfragen. Internet sei Dank: Alte Platten werden wiederentd­eckt, vergessene Pionierinn­en ins Recht gesetzt.

Bettina Flörchinge­r freut sich über das neuerliche Interesse. Sie hofft, dass sie bald wieder auftreten kann. In Kürze erscheint erstmal der alte Kracher „Keine Krise kann mich schocken“mit aktualisie­rtem Text. Die Botschaft: Auch Corona wird ihre Rückkehr zum Punk nicht aufhalten.

 ?? FOTO: PRIVAT ?? Die Band Östro 430 in einer frühen Besetzung mit (v.l.) Marita Welling (Schlagzeug), Martina Weith (Gesang) und Bettina Flörchinge­r (Keyboard). Das Bild entstand Anfang 1980 in ihrem Proberaum im Bunker am Düsseldorf­er Kirchplatz.
FOTO: PRIVAT Die Band Östro 430 in einer frühen Besetzung mit (v.l.) Marita Welling (Schlagzeug), Martina Weith (Gesang) und Bettina Flörchinge­r (Keyboard). Das Bild entstand Anfang 1980 in ihrem Proberaum im Bunker am Düsseldorf­er Kirchplatz.

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