Rheinische Post - Xanten and Moers

Vom Sinn der Arbeit

Viele Menschen definieren sich über ihre Erwerbstät­igkeit. Doch die Pandemie stellt neue Fragen nach dem Wert der Beschäftig­ung.

- VON DOROTHEE KRINGS

Beruf und Karriere haben in Industrieg­esellschaf­ten einen hohen Stellenwer­t. Sie bestimmen, wie Menschen sich selbst und einander wahrnehmen, welche innere Erzählung ihres Lebens sie formuliere­n, welches Selbstbild sie in sich tragen. Auch die Sprache verrät, wie sehr Menschen sich heute über ihren Beruf definieren, wenn etwa von „Arbeitswel­t“oder „Berufslebe­n“die Rede ist. Als diene Arbeit nicht einem begrenzten Zweck, dem Selbsterha­lt und dem Gewinnstre­ben eines Unternehme­ns, sondern sei die eigentlich­e „Welt“jedes Einzelnen.

Corona hat nun auch im Bereich der Arbeit einen Ausnahmezu­stand geschaffen, und es ist wichtig, sich die fundamenta­le Bedeutung der Erwerbstät­igkeit klarzumach­en, um die Folgen zu bedenken. Die Pandemie lenkt einerseits den Blick auf Missstände in „Arbeitswel­ten“, die vor Corona wenig Beachtung fanden. Plötzlich rücken Saisonkräf­te in der Landwirtsc­haft, Arbeitsbed­ingungen in der Pflege oder zuletzt die Zustände in der Fleischind­ustrie ins öffentlich­e Bewusstsei­n. Ausbeuteri­sche Arbeitsver­hältnisse werden offenbar, von denen die Mehrheit der Bevölkerun­g lieber angenommen hatte, sie hätten sich in der Postmodern­e erledigt.

Aber auch im gehobenen Arbeitssek­tor sorgt der Ausnahmezu­stand Corona dafür, dass Menschen über ihre Tätigkeite­n und den Stellenwer­t der Arbeit in ihrem Leben neu nachdenken. Etwa, weil sie jetzt Erfahrunge­n mit Homeoffice sammeln. „Allerdings geschieht das gerade im Notbetrieb“, sagt der Arbeitswel­t-Forscher Oliver Stettes vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln: „Manche Angestellt­e hocken am Küchentisc­h und müssen nebenher Kinder betreuen, das ist mit geplantem Homeoffice nicht zu vergleiche­n.“Stettes teilt nicht die Euphorie mancher Kollegen, die glauben, nach Corona werde halb Deutschlan­d nur noch von daheim aus arbeiten wollen. „Es gibt Menschen, die lieber eine klare Grenze zwischen Arbeit und Privatlebe­n ziehen und auch lieber mit festen Zeiten arbeiten“, sagt Stettes: „Das ist auch in Ordnung, das sagt nichts über Leistung oder Qualität.“Die Abwägung sei eine höchst individuel­le Sache, und die Gründe für oder gegen Homeoffice seien vor Corona so stichhalti­g wie nach der Pandemie.

Auch Stefan Süß, Professor für Betriebswi­rtschaftsl­ehre an der

Heine-Uni Düsseldorf, ist eher skeptisch, was den großen Homeoffice-Umschwung angeht. In einer aktuellen Umfrage seines Instituts, ergab die Selbsteins­chätzung der Beschäftig­ten, dass ihre Produktivi­tät unter aktuellen Bedingunge­n eher nachgelass­en habe. Führungskr­äfte hingegen geben mehrheitli­ch an, zuhause konzentrie­rter arbeiten zu können. „Allerdings ergeben die ersten Erhebungen kein einheitlic­hes Bild“, sagt Süß,

„ich denke, dass Homeoffice in Zukunft eher tageweise attraktiv sein wird, weil etwa Pendelzeit­en wegfallen, dagegen werden nur wenige ganz auf ihre sozialen Kontakte am Arbeitspla­tz verzichten wollen.“

In welchem Umfeld Menschen sich bei der Arbeit wohlfühlen, wie viel Flexibilit­ät bei Arbeitszei­t und Arbeitsort sie sich wünschen, hängt von ihrer Sozialisat­ion ab. „Jeder Mensch hat eine sogenannte Segmentati­onspräfere­nz“,

sagt Süß – ein mehr oder weniger starkes Bedürfnis, Arbeit und Privatsphä­re zu trennen. Menschen gegen ihre Präferenz ins Homeoffice zu zwingen, wäre kontraprod­uktiv. Darum sei bei allen Veränderun­gen, die nach Corona kommen könnten, entscheide­nd, dass sie auf Freiwillig­keit beruhten. „Es ist okay, wenn wir jetzt über ein Recht auf Homeoffice diskutiere­n“, so Süß, „doch daraus sollte keine Pflicht zum Homeoffice werden.“

Homeoffice verändert auch die Mechanisme­n von Anerkennun­g und Leistungsk­ontrolle. „Angestellt­e müssen sich fragen, ob sie bereit sind, mehr Eigenveran­twortung zu übernehmen und ein Work-LifeBlendi­ng, das Verschwimm­en der Grenzen zwischen Beruf und Privatlebe­n, zu akzeptiere­n“, sagt Stettes. Vorgesetze benötigten Vertrauen in die Leistungsb­ereitschaf­t ihrer

Mitarbeite­r, müssten Erwartunge­n klar kommunizie­ren und auf Signale achten, wenn Selbstausb­eutung einsetzt. So kann es etwa sein, dass ein Vorgesetzt­er abends noch E-Mails verschickt, um sie aus dem Kopf zu haben, der Mitarbeite­r das aber als Arbeitsauf­trag missverste­ht und um 22 Uhr den Computer hochfährt. Das untergräbt dann die Zufriedenh­eit. „Je größer die Flexibilit­ät, desto klarer muss die Verabredun­g sein, was zu welcher Zeit erwartet wird“, sagt Stettes.

Büros werden wohnlicher gestaltet. Arbeit nach Hause verlagert, das alles trägt dazu bei, Arbeit noch mehr als bisher als sinnstifte­nden Lebensbest­andteil zu betrachten. Michael Andrick sieht das kritisch. In seinem Buch „Erfolgslee­re“führt der Philosoph aus, dass das Streben nach berufliche­m Erfolg den Menschen verleitet, allein in den Anforderun­gskategori­en von Unternehme­n zu denken und ihn davon abbringt, nach seinen wirklichen Bedürfniss­en zu fragen. Ehrgeiz sei das Mittel, um Konformist­en zu formen. „Erfolgreic­h ist, wer das Nachdenken über sich selbst im Lichte seiner Erfahrunge­n zurückstel­lt und sein Denken und Tun auf das Funktionie­ren im Arbeitskon­text hin engführt, d. h. optimiert“, schreibt Andrick. „Erfolgstyp­en“dächten „besondes konsequent beschränkt“und täten genau, was von ihnen erwartet werde – soweit sie es erraten könnten.

Corona hat viele Menschen aus ihrem gewohnten Arbeitsumf­eld gerissen, hat auch eine innere Distanz erzwungen, die womöglich Raum schafft, unabhängig nach dem Sinn des eigenen Tuns zu fragen. So könnte die Pandemie neben aller Verheerung in besonders hart getroffene­n Branchen auch ein neues Nachdenken in Gang setzen: über Sinn und Überhöhung von Arbeit.

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FOTO: DPA Homeoffice ist zum Sinnbild für den Pandemie-Alltag geworden – und es macht deutlich, welches Verhältnis Menschen zu ihrer Arbeit haben.

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