Rheinische Post - Xanten and Moers
Vom Sinn der Arbeit
Viele Menschen definieren sich über ihre Erwerbstätigkeit. Doch die Pandemie stellt neue Fragen nach dem Wert der Beschäftigung.
Beruf und Karriere haben in Industriegesellschaften einen hohen Stellenwert. Sie bestimmen, wie Menschen sich selbst und einander wahrnehmen, welche innere Erzählung ihres Lebens sie formulieren, welches Selbstbild sie in sich tragen. Auch die Sprache verrät, wie sehr Menschen sich heute über ihren Beruf definieren, wenn etwa von „Arbeitswelt“oder „Berufsleben“die Rede ist. Als diene Arbeit nicht einem begrenzten Zweck, dem Selbsterhalt und dem Gewinnstreben eines Unternehmens, sondern sei die eigentliche „Welt“jedes Einzelnen.
Corona hat nun auch im Bereich der Arbeit einen Ausnahmezustand geschaffen, und es ist wichtig, sich die fundamentale Bedeutung der Erwerbstätigkeit klarzumachen, um die Folgen zu bedenken. Die Pandemie lenkt einerseits den Blick auf Missstände in „Arbeitswelten“, die vor Corona wenig Beachtung fanden. Plötzlich rücken Saisonkräfte in der Landwirtschaft, Arbeitsbedingungen in der Pflege oder zuletzt die Zustände in der Fleischindustrie ins öffentliche Bewusstsein. Ausbeuterische Arbeitsverhältnisse werden offenbar, von denen die Mehrheit der Bevölkerung lieber angenommen hatte, sie hätten sich in der Postmoderne erledigt.
Aber auch im gehobenen Arbeitssektor sorgt der Ausnahmezustand Corona dafür, dass Menschen über ihre Tätigkeiten und den Stellenwert der Arbeit in ihrem Leben neu nachdenken. Etwa, weil sie jetzt Erfahrungen mit Homeoffice sammeln. „Allerdings geschieht das gerade im Notbetrieb“, sagt der Arbeitswelt-Forscher Oliver Stettes vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln: „Manche Angestellte hocken am Küchentisch und müssen nebenher Kinder betreuen, das ist mit geplantem Homeoffice nicht zu vergleichen.“Stettes teilt nicht die Euphorie mancher Kollegen, die glauben, nach Corona werde halb Deutschland nur noch von daheim aus arbeiten wollen. „Es gibt Menschen, die lieber eine klare Grenze zwischen Arbeit und Privatleben ziehen und auch lieber mit festen Zeiten arbeiten“, sagt Stettes: „Das ist auch in Ordnung, das sagt nichts über Leistung oder Qualität.“Die Abwägung sei eine höchst individuelle Sache, und die Gründe für oder gegen Homeoffice seien vor Corona so stichhaltig wie nach der Pandemie.
Auch Stefan Süß, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der
Heine-Uni Düsseldorf, ist eher skeptisch, was den großen Homeoffice-Umschwung angeht. In einer aktuellen Umfrage seines Instituts, ergab die Selbsteinschätzung der Beschäftigten, dass ihre Produktivität unter aktuellen Bedingungen eher nachgelassen habe. Führungskräfte hingegen geben mehrheitlich an, zuhause konzentrierter arbeiten zu können. „Allerdings ergeben die ersten Erhebungen kein einheitliches Bild“, sagt Süß,
„ich denke, dass Homeoffice in Zukunft eher tageweise attraktiv sein wird, weil etwa Pendelzeiten wegfallen, dagegen werden nur wenige ganz auf ihre sozialen Kontakte am Arbeitsplatz verzichten wollen.“
In welchem Umfeld Menschen sich bei der Arbeit wohlfühlen, wie viel Flexibilität bei Arbeitszeit und Arbeitsort sie sich wünschen, hängt von ihrer Sozialisation ab. „Jeder Mensch hat eine sogenannte Segmentationspräferenz“,
sagt Süß – ein mehr oder weniger starkes Bedürfnis, Arbeit und Privatsphäre zu trennen. Menschen gegen ihre Präferenz ins Homeoffice zu zwingen, wäre kontraproduktiv. Darum sei bei allen Veränderungen, die nach Corona kommen könnten, entscheidend, dass sie auf Freiwilligkeit beruhten. „Es ist okay, wenn wir jetzt über ein Recht auf Homeoffice diskutieren“, so Süß, „doch daraus sollte keine Pflicht zum Homeoffice werden.“
Homeoffice verändert auch die Mechanismen von Anerkennung und Leistungskontrolle. „Angestellte müssen sich fragen, ob sie bereit sind, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen und ein Work-LifeBlending, das Verschwimmen der Grenzen zwischen Beruf und Privatleben, zu akzeptieren“, sagt Stettes. Vorgesetze benötigten Vertrauen in die Leistungsbereitschaft ihrer
Mitarbeiter, müssten Erwartungen klar kommunizieren und auf Signale achten, wenn Selbstausbeutung einsetzt. So kann es etwa sein, dass ein Vorgesetzter abends noch E-Mails verschickt, um sie aus dem Kopf zu haben, der Mitarbeiter das aber als Arbeitsauftrag missversteht und um 22 Uhr den Computer hochfährt. Das untergräbt dann die Zufriedenheit. „Je größer die Flexibilität, desto klarer muss die Verabredung sein, was zu welcher Zeit erwartet wird“, sagt Stettes.
Büros werden wohnlicher gestaltet. Arbeit nach Hause verlagert, das alles trägt dazu bei, Arbeit noch mehr als bisher als sinnstiftenden Lebensbestandteil zu betrachten. Michael Andrick sieht das kritisch. In seinem Buch „Erfolgsleere“führt der Philosoph aus, dass das Streben nach beruflichem Erfolg den Menschen verleitet, allein in den Anforderungskategorien von Unternehmen zu denken und ihn davon abbringt, nach seinen wirklichen Bedürfnissen zu fragen. Ehrgeiz sei das Mittel, um Konformisten zu formen. „Erfolgreich ist, wer das Nachdenken über sich selbst im Lichte seiner Erfahrungen zurückstellt und sein Denken und Tun auf das Funktionieren im Arbeitskontext hin engführt, d. h. optimiert“, schreibt Andrick. „Erfolgstypen“dächten „besondes konsequent beschränkt“und täten genau, was von ihnen erwartet werde – soweit sie es erraten könnten.
Corona hat viele Menschen aus ihrem gewohnten Arbeitsumfeld gerissen, hat auch eine innere Distanz erzwungen, die womöglich Raum schafft, unabhängig nach dem Sinn des eigenen Tuns zu fragen. So könnte die Pandemie neben aller Verheerung in besonders hart getroffenen Branchen auch ein neues Nachdenken in Gang setzen: über Sinn und Überhöhung von Arbeit.