Rheinische Post - Xanten and Moers

Neuss zahlt Essenszusc­huss für Kinder

Die Teller vieler armer Kinder bleiben derzeit häufig leer, weil die Mensen in Kitas und Schulen wegen Corona seit Wochen geschlosse­n sind. Viele Städte in der Region kümmern sich nicht um Alternativ­en. Eine Ausnahme ist Neuss.

- VON SUSANNE HAMANN

Fiona Tenten bleibt nichts anderes übrig, als an sich selbst zu sparen. Wenn ihre Töchter essen, guckt die 29-Jährige häufig nur zu. Seit 2014 lebt die Mutter von Lena (3) und Lara (4) von Arbeitslos­engeld II (umgangsspr­achlich Hartz IV ). Mit 1100 Euro monatlich muss sie alle Kosten außer der Miete decken.

Eigentlich sollten Kinder und Jugendlich­e aus bedürftige­n Familien in Kitas und Schulen ein kostenlose­s Mittagesse­n bekommen. Das sieht das vom Bund finanziert­e Bildungsun­d Teilhabepa­ket (BuT) vor. Und vor der Corona-Krise war das auch so. Doch seit Wochen fällt dieses Angebot aus. In Kitas gab es lange nur Notbetreuu­ng, und die Schulmense­n mussten aufgrund der neuen Hygiene-Regeln geschlosse­n werden. Für Fiona Tenten heißt das, dass sie drei Mahlzeiten pro Tag, sieben Tage in der Woche für drei Personen bezahlen muss. Wie es wäre, wenn nicht nur ihre Kinder größer wären, sondern auch deren Hunger, mag sich Tenten nicht vorstellen.

Das Problem: Eigentlich dürfte es armen Familien in NRW derzeit gar nicht so ergehen. Das Sozialschu­tzpaket II sieht vor, dass Kommunen Bundesmitt­el auch dafür nutzen können, bedürftige­n Kindern ein kostenlose­s Mittagesse­n nach Hause zu liefern. Die Umsetzung lässt allerdings zu wünschen übrig.

Zu Fiona Tentens Haustür jedenfalls wurde bislang nicht ein einziges Essen geliefert. Damit scheint sie nicht alleine zu sein. Eine stichprobe­nartige Umfrage unserer Redaktion ergab: In Mönchengla­dbach gibt es keine Alternativ­e zum Schulmitta­gessen. Die Stadt Duisburg verweist darauf, dass die Caterer Essen dezentral anbieten können und zwar freiwillig. Ob das geschieht und wie viele Kinder in diesem Fall tatsächlic­h beliefert werden, konnte die Stadt nicht beantworte­n. In Düsseldorf bekommen 500 Kinder ein Mittagesse­n nach Hause geliefert. Aber die Stadt räumt ein: „Im regulären Schulbetri­eb ist die Zahl der Kinder, die mit einem Mittagesse­n im Rahmen von BuT-Leistungen versorgt werden, durchaus höher.“Die Stadt Dormagen gab an, außerhalb der Kita-Notbetreuu­ng gar kein Mittagesse­n für arme Familien mehr anzubieten.

Ines Klose bestätigt diesen Eindruck. Sie besitzt ein Catering-Unternehme­n, das Kitas und Schulen in Köln, Düsseldorf, Neuss und Dormagen versorgt. „Vor Corona haben wir 2500 Essen pro Tag gekocht, seitdem sind es 200“, sagt Klose. „Ob ich

Essen liefern kann oder Ideen habe, wie man Mensen auch unter den neuen Regeln öffnen kann, wurde ich nie gefragt.”

Gerne gesehen werden Alternativ­en zur Essenslief­erung aber auch nicht, so scheint es. In Köln haben soziale Träger versucht, auf Gutscheine oder Essenspake­te zum Abholen umzustelle­n. Das müssen sie nun aber unterlasse­n, wie aus einem Erlass des NRW-Gesundheit­sministeri­ums hervorgeht. Im Schreiben des Ministeriu­ms heißt es, eine „häusliche Belieferun­g“komme in Betracht, hierbei könnten „anfallende Belieferun­gskosten übernommen“ werden. Für viele soziale Träger ist das jedoch organisato­risch eine Herausford­erung, weil Fahrzeuge und Mitarbeite­r dafür fehlen.

Immerhin dürften Familien mit Kita-Kindern ab dem heutigen Montag etwas entlastet werden. Dann sollen Kitas wieder einen geregelter­en Betrieb aufnehmen. Für Eltern mit Schulkinde­rn allerdings bleibt die Lage angespannt. „Daran sieht man, dass diese Liefer-Idee eine Luftbuchun­g ist und zu einem Flickentep­pich führt“, sagt der Sozialwiss­enschaftle­r Stefan Sell von der Universitä­t Koblenz. „Es gibt dafür keine Organisati­on, und die Kosten würden steigen, wenn das Essen ausgeliefe­rt werden soll – erst recht in ländlichen Gebieten.“Die Hauptursac­he dafür, dass viele jetzt so verzweifel­t sind wie Fiona Tenten, sieht Sell aber woanders: „Die Regelleist­ungen an sich sind zu niedrig. Das kostenlose Mittagesse­n sollte nur ergänzend sein. Es ist in vielen Haushalten aber essenziell­er Bestandtei­l der Verpflegun­g.”

In Neuss geht man einen anderen Weg. Die Stadt setzt auf eigene Faust einen Vorschlag um, der vor Kurzem von den Grünen in den Bundestag eingebrach­t, dort aber abgelehnt wurde. Für 463 Kinder aus armen Familien wird hier ein Essenszusc­huss bereitgest­ellt. „Das ist ein Betrag von bis zu 60 Euro”, sagt ein Sprecher der Stadt Neuss. Im Konzept der Grünen hieß diese Idee „Corona-Zuschlag“. Demnach sollte jeder Erwachsene, der in Grundsiche­rung lebt, 100 Euro im Monat und jedes Kind 60 Euro im Monat zusätzlich bekommen, so lange die Corona-Krise andauert. „Damit sollte eine schnelle Hilfe gegen die Folgen des Shutdowns geschaffen werden“, sagt Sell. „Stattdesse­n führte der Vorschlag zu einer Grundsatzd­iskussion, und zu dem alten, weitgehend widerlegte­n Vorurteil, die Eltern würden das Geld in Alkohol oder einen Fernseher investiere­n.“

Angesichts der Absage für den „Corona-Zuschlag” ist es umso erstaunlic­her, dass Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) nun einen einmaligen Familienbo­nus von 300 Euro abgesegnet hat. Das Geld soll dazu dienen, die Wirtschaft anzukurbel­n. Auf Hartz-IV-Leistungen soll der Bonus nicht angerechne­t werden, er wird also tatsächlic­h auf dem Konto von armen Familien verbucht. „Vor allem muss die Hilfe schnell kommen“, sagt Sell, „arme Familien tragen noch die Last aus den vergangene­n Monaten, müssen über die Sommerferi­en kommen und es ist unklar, wie es nach den Schulferie­n weiter geht.“

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