Rheinische Post - Xanten and Moers

Der Reichstag im Museum

Die Berliner Kunstszene kehrt zurück ins Leben. Viele Häuser haben wieder geöffnet. Sehenswert ist die große Christo-Schau im Palais Populaire.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Verhüllen, um den Blick zu schärfen und das Bekannte neu zu sehen. Schranken der Wahrnehmun­g überwinden, um der Fantasie freien Lauf zu lassen. Soziale und gesellscha­ftliche Grenzen einreißen: Keiner konnte die Kunst als demokratis­ches Prinzip glaubwürdi­ger verkörpern als der am Pfingstson­ntag verstorben­e Christo, der für seine Visionen den langen Atem hatte, den man benötigt, um Hinderniss­e zu umschiffen und Millionen zu begeistern. Jahrzehnte­lange Überzeugun­gsarbeit war vonnöten, um die deutsche Bürokratie zu überlisten und die Erlaubnis zu erhalten, die klobige Trutzburg des Reichstags mit 100.000 Quadratmet­ern silbrig schimmernd­em Polypropyl­en in ein utopisches Luftschiff zu verwandeln: Die Installati­on traf im wieder vereinten Berlin 1995 den Nerv der Zeit und lockte mehr als Millionen Besucher aus aller Welt an.

Die Faszinatio­n „Wrapped Reichstag“währte nur 14 Tage. Dann wurden alle Tücher und Seile wieder entfernt und recycelt. Geblieben sind die Erinnerung und der Beweis, dass Kunst von zeitloser Schönheit und Kraft ist und sich von keiner politische­n Macht vereinnahm­en lässt. Natürlich spielt der „Wrapped Reichstag“, den Christo mit seiner Ehefrau der Welt schenkte, eine wichtige Rolle in der Ausstellun­g, die jetzt im Berliner Palais Populaire eröffnet wurde: „Christo and Jeanne-Claude, Projects 1963-2020“.

Das Kunst-Sammler-Paar Ingrid und Thomas Jochheim hat unzählige Skizzen und Studien, Fotos und Zeichnunge­n zusammenge­tragen, die Christo im Vorfeld seiner Installati­onen angefertig­t und mit deren Verkauf er seine Aktionen finanziert hat. Die Entwürfe für seine „Store Fronts“, mit denen Christo in New York die Ladenfront­en mit Tüchern verhängte sind genauso zu sehen wie die Skizzen zum „Wrapped Coast“-Project, bei dem er einen 2,4 Kilometer langen Küstenstre­ifen in der Nähe von Sydney mit 92.900 Quadratmet­ern Folie verhüllte. Der „Running Fence“, der sich über 40 Kilometer vom Pazifik bis in die Grashügel von Kalifornie­n zog. Die „Surrounded Islands“, die das Meer bei Miami in einen pinkfarben­en Blütenraus­ch verwandelt­en. Die in den italienisc­hen Iseo-See gelegten „Floating Piers“, auf denen über eine Millionen Menschen übers Wasser wandelten. Was Christo sich ausdachte, um in Paris den „L´Arc de Triomphe“einzuhülle­n, wird vorerst nur eine in der Ausstellun­g zu bewundernd­e Skizze bleiben: die für Herbst geplante Realisieru­ng des Projekts wurde wegen Corona auf nächstes Jahr verschoben.

Wer es dagegen mit politisch eher deftiger und direkter Kunst hält, kommt in der Akademie der Künste am Brandenbur­ger Tor mit einer Agitprop-Schau auf seine Kosten: „John Heartfield – Fotografie plus Dynamit“. Fotomontag­en, Bühnenbild­er, Grafiken, Skizzen, Fotos, Filme: So umfassend wurde das Werk des streitbare­n Aktivisten, für den die Kunst ein Mittel des politische­n Kampfes war, kaum je präsentier­t. Dass Heartfield nicht nur in seinem antikapita­listischen Furor und antifaschi­stischen Duktus diskutiert, sondern auch thematisch­e und formale Bezüge zu seinen Zeitgenoss­en aufgedeckt werden (und Bertolt Brecht genauso zu Wort kommt wie Wieland Herzfelde, Erwin Piscator und George Grosz) macht die Werkschau unverzicht­bar.

Überall in den Berlin Museen und Galerien kehrt das Kunst-Leben zurück, auch in den zwischen Staatsoper und Kommandant­enhaus gelegenen und erst jüngst renovierte­n

Schinkel-Pavillon: John Miller sucht nach den Elixieren der Unsterblic­hkeit und inszeniert den ehemaligen Sakral-Bau als gold glänzenden ewigen Tempel: surreal, aber schön. Konvention­eller geht es dagegen im Brücke-Museum zu, das den Neustart mit einer Ausstellun­g des Berliner Malers Max Kaus wagt und den zu Unrecht fast in Vergessenh­eit geratenen Künstler als Kollege und Kontrahent, Freund und Weggefährt­e von Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff vorstellt. Neu zu entdecken ist auch der Berliner Stadtmaler Hans Baluschek: Zu seinem 150. Geburtstag zeigt das Bröhan-Museum unter dem Titel „Zu wenig Parfüm, zu viel Pfütze“Werke des angriffslu­stigen und sozial engagierte­n Malers, der einmal von sich sagte: „Meine Waffen: Pinsel, Kohle, Feder, Bleistift sollen hauen und stechen.“Baluschek fühlte sich keiner künstleris­chen Strömung zugehörig, malte, was ihm vors Auge kaum, sprach, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Ob Symbolismu­s oder Expression­ismus, Naturalism­us oder Dadaismus: Es war ihm schnuppe. „Ich bin eben ich“, formuliert­e er selbstbewu­sst.

Klingt ziemlich modern.

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FOTO: WOLFGANG KUMM 1995 verhüllten Christo und Jeanne-Claude den Berliner Reichstag. Bereits am ersten Wochenende kamen über eine halbe Million Besucher zum Platz der Republik.

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