Rheinische Post - Xanten and Moers
Eine Zeitreise in die braune Vergangenheit
Rundgang durch die Ausstellung in Sonsbeck zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Schicksale der Menschen sollen nicht vergessen werden.
SONSBECK Wer in der kleinsten Gemeinde im Kreis Wesel spazieren geht, entdeckt ihn nicht unbedingt, den großen Findling auf einer Wiese hinter der Sparkassen-Filliale an der Hochstraße. Warum der Stein da liegt, direkt neben einem Sitzbank-Ensemble, das erschließt sich einem nicht wirklich. Zwar ist auf einer Infotafel zu lesen, dass es sich um einen Gneisgranit aus der Umgebung des Vänern-Sees in Südschweden handelt, der vor 250.000 Jahren durch vorrückendes Inlandeis nach Sonsbeck gelangte. Aber der dicke Brocken, könnte er sprechen, hätte viel mehr zu erzählen, genau wie die Menschen, die wie er das Nazi-Regime und den Zweiten Weltkrieg miterleben mussten.
Der Findling wäre also Zeitzeuge, könnte davon berichten, dass Nationalsozialisten am 1. Mai 1933 groß den Tag der nationalen Arbeit feierten. Mit Messen in beiden Kirchen, einem Platzkonzert des Musikvereins an der Linde und einem 90-minüten Marsch der Bürgerschaft durch den geschmückten Ort. Der Stein könnte weiter erzählen, dass ein Adolf-Hitler-Platz eingeweiht wurde. Und dass die Nationalsozialisten hierzu ihn, den Findling, mit der Aufschrift „Unserem Führer Adolf Hitler 1933“aufgestellt und direkt daneben eine Hitler-Linde gepflanzt hatten.
„Hitler-Plätze wie dieser entstehen im ganzen Reich“, erzählt Christiane Grütters in einem Video, das seit dem 7. Mai im Netz zu finden ist. Es gehört zu einer Ausstellung, mit der der Verein für Denkmalpflege
„die Geschichte lebendig halten, die Schicksale der Menschen nicht vergessen lassen will“, beschreibt es Vereinsmitglied David Riedel. 13 großformatige Poster, die in Schaufenstern entlang der Hochstraße, an der Kastellstraße und am katholischen Pfarrheim an der Herrenstraße
hängen, dokumentieren die im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gebäude. „75+1 Jahre Kriegsende: Ein Spaziergang durch Sonsbeck damals und heute“heißt die Ausstellung.
Die 13 Poster machen etwa ein Viertel der historischen Bilder aus dem Fundus von Thomas Grütters und Dietrich von Quistorp aus, die eigentlich schon im Mai 2020 in der Gommanschen Mühle ausgestellt werden sollten. Das hat Corona verhindert. Und weil sich abzeichnete, dass es auch 2021 wohl nichts wird mit einer Präsenzausstellung, wollte man auf anderem Wege an ein düsteres Kapitel deutscher Geschichte erinnern. Im Tonstudio von Veit Scheuermann sind in vielen Stunden fünf Videos entstanden, die Christiane Grütters besprochen und zum Großteil auch betextet hat. David Riedel hat die ersten drei Videos ins Netz gestellt, drei weitere werden noch folgen.
„Am 30. Januar 1933 ernennt Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler. Dieses Ereignis stellt den Grundstein zur Machtergreifung der NSDAP dar“, erzählt Grütters in einem dieser mit Musik untermalten bewegenden Videos. Und obwohl sie im März 1933 bei den Kommunalwahlen mit 201 Stimmen nur Platz drei der angetretenen Parteien belegten, hätten die Nationalsozialisten drei Tage nach der Wahl den damaligen Bürgermeister verhaftet und ersetzt. „Gute sechs Wochen später ist laut einem Artikel des Boten für Stadt und Land der ganze Ort braun.“
In einem anderen Video liest Franz Dahmen aus einem Feldpostbrief vor, den sein Patenonkel Heinrich Dahmen im Alter von 20 Jahren am 16. Juli 1944 an seine Familie auf dem Schafstallhof schrieb. „Lieber Papa, liebe Mama und Geschwister“, fängt der Brief des jungen Soldaten an. „Wir haben uns aus dem Kessel von Vilna herausgekämpft, meine ganze Ausrüstung und Privatsachen
sind im Kessel geblieben, außer Brieftasche und Waschzeug“. Hier habe er in acht Tagen mehr mitgemacht als in eineinhalb Jahren in Finnland, schreibt Franz Dahmen, „betet jetzt, wie immer. Denn es tut not“. Er bittet die Eltern, sich keine Sorgen zu machen, wenn sie mal nichts von ihm hören. Neun Tage später gerät er in russische Gefangenschaft, erst 14 Monate später, im September 1945, kehrt Heinrich Dahmen auf den Schafstallhof, sein Zuhause, zurück. „Sein heute 91-jähriger Bruder Willi Dahmen hütet diesen und die weiteren Briefe aus der Vergangenheit noch immer wie einen Schatz“, erzählt Christiane Grütters.
Auch in kleinen Gemeinden wie Sonsbeck habe Geschichte stattgefunden, nicht nur in großen Städten wie Berlin, so der Verein für Denkmalpflege. Die Zeitzeugen, die von
dieser Zeit in Sonsbeck erzählen können, werden älter, könne ihre Erlebnisse nicht mehr weiter vermitteln. „Deswegen haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, ihre Geschichten für sie zu erzählen“, heißt es. Bis zum 24.Mai sind Bilder in Schaufenstern zu sehen, die aufzeigen, wie es in den 30er und 40er Jahren in Sonsbeck ausgesehen hat. Fünf Kurzfilme, veröffentlicht über YouTube und Facebook, nehmen die Menschen mit auf eine Zeitreise in die Vergangenheit.
Den schweren Findling auf dem damaligen Adolf-Hitler-Platz haben Bürger nach Kriegsende übrigens zur Seite gerollt, von wo er viele Jahre später verschwand. 1996 tauchte der Stein in einer Wohnsiedlung wieder auf und wurde in einem Bürgerstreich erneut hinter die Sparkasse gelegt. Dort liegt er noch heute. www.denkmalpflege-sonsbeck.de