Rheinische Post - Xanten and Moers
Mietkosten als Existenzfrage
Fast jeder vierte Hartz-IV-Haushalt im Kreis Wesel zahlt bei den Miet- und Heizkosten drauf. Manche finden keine günstigere Wohnung, andere wollen ihr vertrautes Umfeld nicht verlassen. Mit fatalen Folgen.
KREIS WESEL Seit Jahren schon steigen die Mieten in Deutschland rasant. Am meisten leiden darunter die Ärmsten der Gesellschaft, denn gleichzeitig sinkt die Zahl der Sozialwohnungen stetig: In Wesel werden nur noch sechs, in Nordrhein-Westfalen neun Prozent aller Wohnungen öffentlich gefördert. Nach einer gewissen Zeit fallen sie aus der Sozialbindung heraus, die Mieten dürfen dann angehoben werden – auch über die vom Jobcenter gezahlten Sätze hinaus. Die Folge ist, dass Empfänger von Sozialleistungen aus ihrem Zuhause vertrieben werden, aber häufig keine bezahlbare Bleibe finden. Viele kommen deshalb mit ihrer Grundsicherung für zusätzliche Wohnkosten auf. Auch im Kreis Wesel.
Wie eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag nun ergeben hat, lag die Wohnkostenlücke für den Kreis im Jahr 2020 bei 22,7 Prozent. Fast jeder vierte der 15.512 Haushalte, in denen Hartz-IV-Beziehende leben, bezahlt damit durchschnittlich
77,35 Euro, solche mit Kindern sogar
91,18 Euro, für Miet- und Heizkosten. Von dem Geld, das er eigentlich zum Leben hat. Insgesamt wurden mehr als 3,2 Millionen Euro an Wohnungskosten vom Jobcenter Wesel nicht anerkannt. Der Anteil der Zuzahlenden liegt damit ungleich höher als in den umliegenden Kreisen und Städten (siehe Grafik).
Yvonne Niggemann ist Referentin für Armut und Grundsicherung beim Paritätischen Wohlfahrtsverband NRW und kennt die Problematik. „Es ist gesetzlich so geregelt, dass in jeder Kommune und für jede Haushaltsgröße die Angemessenheitsgrenzen bei den Mietkosten für Sozialhilfeempfänger festlegt werden. Häufig geschieht dies auf Grundlage veralteter oder auch ohne Mietspiegel.“Auch Roman Reisch, sozialpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Kreistag, glaubt, dass die Mietpreisentwicklung
nur unzureichend berücksichtigt werde.
Alle vier Jahre werden von der Kreisverwaltung externe Agenturen mit der komplizierten Berechnung neuer Mietobergrenzen beauftragt. Nach zwei Jahren erfolgt eine automatisierte Erhöhung, die sich dem Kreis Wesel zufolge maßgeblich am bundesweiten Verbraucherpreisindex als Indikator für gestiegene Lebenskosten orientiert. Im Mai 2022 werden die Mietobergrenzen neu berechnet, heißt es.
Insgesamt sind für den Kreis Wesel sieben Vergleichsräume definiert. Das Jobcenter sieht für Einzelhaushalte in Wesel, Schermbeck und Hamminkeln Mietkosten von bis zu 361,50 Euro als angemessen an, für Haushalte mit vier Personen
651,70 Euro. Für Alpen, Rheinberg, Sonbeck und Xanten sind das 385,50 beziehungsweise 715,35 Euro, für Kamp-Lintfort 406,50 respektive
811,80 Euro.
Aus langjähriger Erfahrung weiß Reisch, dass es der Kreis häufig aber auch nicht ganz einfach hat bei Bestimmung der Mietobergrenen. Er spricht von einem „Katz-und-MausSpiel“: Viele Vermieter würden nur darauf warten, dass die Kreisverwaltung die Mietobergrenzen für HartzIV-Bezieher anpasse und würden dann die Mieten entsprechend anheben. Niggemann lässt das nicht gelten: „Wenn man das weiß, warum kalkuliert man das nicht mit ein?“
Bei Mieterhöhungen oder wenn Menschen in die Grundsicherung rutschen, prüft das Jobcenter, ob die Mietkosten „unangemessen“hoch sind. Sie bekommen dann in der Regel bis zu sechs Monate Zeit, beim Vermieter Mietminderung zu erbitten, oder sich eine neue Bleibe zu suchen. Reisch sagt: „Es gibt aber im Kreis Wesel viel zu wenig bezahlbaren Wohnraum und häufig bekommen Leistungsempfänger für diese Wohnungen auch keinen Zuschlag, weil sie mit Menschen konkurrieren, die ein mittleres Einkommen vorweisen können.“
Yvonne Niggemann vom Paritätischen Wohlfahrtsverband NRW erklärt, dass viele Menschen aber auch nicht gehen wollen. Denn die Einschnitte sind gravierend. „Sie müssen ihr vertrautes Umfeld verlassen, in dem sie vielleicht über Jahrzehnte gewohnt haben. Das hat häufig massive psychische Folgen, wir haben es gerade bei Alleinlebenden häufig mit Vereinsamung zu tun“, sagt sie.
Viele könnten sich nicht mal Bustickets leisten, um Freunde oder Verwandten zu besuchen, die vielleicht am anderen Ende der Stadt wohnen. Kinder solcher Familien würden besonders leiden, sagt Yvonne Niggemann, sie müssten häufig weg von Freunden und Bezugspersonen in eine andere Kita oder Schule wechseln. Also sparen sich viele Hartz-IVBeziehende die zusätzlichen Kosten von der knapp bemessenen Grundsicherung ab.
Auch vom Kreisverband des Paritätischen in Wesel werde ihr berichtet, sagt Yvonne Niggemann, dass viele deshalb persönliche Fürsorge vernachlässigen würden: Sie verzichten auf Freizeitaktivitäten oder Haustiere, sie ernähren sich teils unzureichend und unausgewogen. Soziale Teilhabe sei nicht mehr möglich.
Zuletzt ist der Anteil der zuzahlenden Sozialhilfeempfänger zwar auch im Kreis Wesel zurückgegangen – 2018 waren es noch 27 Prozent statt 22,7 Prozent 2020. Niggemann glaubt nur an einen temporären Trend: „Wenn ich mir die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt anschaue, dann befinden wir uns wahrscheinlich nur in einer Talsenke.“Sie glaubt, dass das Problem in den kommenden Jahren deutlich steigen wird und immer mehr Sozialhilfeempfänger bei den Wohnkosten
draufzahlen werden müssen, weil die Mietsteigerungen an Tempo gewinnen und es daher immer weniger bezahlbaren Wohnraum geben wird. Auch Reisch geht davon aus, dass immer mehr Menschen aus den Metropolen in die Kommunen des Kreises Wesel ziehen werden, dabei die Mieten nach oben treiben und so denen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, den Wohnraum wegnehmen.
Yvonne Niggemann plädiert dafür, dass Kreise und Kommunen bei der Ermittlung neuer Mietobergrenzen mit Organisation wie Caritas, Diakonie, oder dem Paritätischen kooperieren: „Denn wir in der Wohlfahrtspflege sind es, die ein realitätsnahen Einblick in die Lebensumstände dieser Menschen geben können“. Und sie hätten mit den Folgen zu kämpfen, wenn sich ihre Not vergrößere.