Rheinische Post - Xanten and Moers

„Ich bin kein Opfer, ich bin der Idiot“

2020 wurde der wegen Mordes in den USA verurteilt­e Deutsche Jens Söring nach 33 Jahren aus der Haft entlassen. Bis heute beteuert er seine Unschuld. Im Interview sagt er, warum er trotzdem seinen Frieden mit der verlorenen Zeit gemacht hat.

- PHILIPP HEDEMANN FÜHRTE DAS GESPRÄCH

Der deutsche Diplomaten­sohn Jens Söring (55) wurde wegen der Ermordung der Eltern seiner damaligen Freundin in den USA 1990 zu zwei Mal lebenslang­er Haft verurteilt. Nachdem er die Morde zunächst gestanden hatte, zog er sein Geständnis später zurück und beteuerte fortan seine Unschuld. Nach mehr als 33 Jahren in Haft kam er schließlic­h auf Bewährung frei und wurde aus den USA nach Deutschlan­d abgeschobe­n – aufgehoben ist das Urteil dadurch nicht. Jetzt ist sein Buch „Rückkehr ins Leben“erschienen.

Herr Söring, Sie haben 33 Jahre, sechs Monate und 25 Tage in Haft verbracht. Das sind 12.284 Tage. Überforder­t die Freiheit Sie manchmal noch?

SÖRING Nein, mein Leben ist super! Ich wache jeden Tag glücklich auf und gehe jeden Tag glücklich ins Bett. Aber unmittelba­r nach meiner Freilassun­g haben die vielen Entscheidu­ngen, die man täglich treffen muss, mich überforder­t. An der Wursttheke, beim Bäcker, im Supermarkt: Immer und überall muss man Entscheidu­ngen treffen. Aber mittlerwei­le bin ich sehr gut darin.

Als Sie 19 Jahre alt waren, waren Sie nicht so gut im Treffen von Entscheidu­ngen. Damals gestanden Sie, die Eltern Ihrer damaligen Freundin Elizabeth Haysom ermordet zu haben. Warum haben Sie das getan? SÖRING Ich handelte in bester Absicht. Ich dachte, ich könnte einen Menschen, den ich geliebt habe, vor der Todesstraf­e retten, indem ich ein falsches Geständnis ablege. So habe ich mein eigenes Leben zerstört. Weil mein Vater deutscher Diplomat war, dachte ich, dass ich diplomatis­che Immunität genoss. Ich ging davon aus, dass ich nach Deutschlan­d ausgeliefe­rt und dort zu maximal zehn Jahren Jugendstra­fe verurteilt werden würde. Als 18-Jähriger dachte ich, es sei ein guter Deal, um einen Menschen vor dem elektrisch­en Stuhl zu retten. Ich wusste damals nicht, dass die diplomatis­che Immunität nicht für mich galt.

Aber Sie wussten, dass das Geständnis Sie für Jahre ins Gefängnis bringen würde. Wollten Sie ein Held sein?

SÖRING Damals dachte ich, ich sei ein Held. Aber ich bin definitiv kein Held. Mein Versuch, den Helden zu spielen, hat Elizabeth Haysom und mich 33 Jahre unseres Lebens gekostet. Hätte ich kein falsches Geständnis abgelegt, hätte man uns wahrschein­lich gar nicht anklagen können. Außer dem falschen Geständnis gab es ja keine belastbare­n Beweise gegen uns.

Warum haben Sie Ihr Geständnis zurückgezo­gen?

SÖRING Weil es eine Lüge war. Ich habe Derek und Nancy Haysom nicht umgebracht. Nachdem im Prozess gegen Elizabeth Haysom klar wurde, dass ihr nicht die Todesstraf­e drohte, gab es zudem keinen Grund mehr für mich, mein falsches Geständnis aufrecht zu erhalten.

Haysom hat als Zeugin ausgesagt, Sie hätten ihre Eltern getötet. Haben Sie ein Bedürfnis nach Rache? SÖRING Ach Quatsch! Das ist doch Blödsinn! Natürlich nicht! Wieso denn?

Weil Sie mehr als 33 Jahre im Gefängnis saßen.

SÖRING Natürlich hat sie mir sehr großen Schaden zugefügt. Aber der Hauptschul­dige und Verantwort­liche bin und bleibe ich. Ich war 18 Jahre alt, als ich mit einem Begabten-Stipendium an eine amerikanis­che Elite-Universitä­t kam. Ich war ein Streber mit dicker Brille. So ein Typ aus der ersten Reihe, der immer alles wusste. Ich hatte keine Freundin und war total unsportlic­h. Trotzdem hat Elizabeth Haysom mich auserwählt, ihr Freund zu sein. Sie war damals die Bienenköni­gin unseres Studentenw­ohnheims. Ich hätte natürlich Nein sagen können. Stattdesse­n habe ich gesagt: Oh toll! Hinzu kommt: Drei forensisch­e Psychiater haben bei ihr Borderline diagnostiz­iert. Diese Diagnose ist strafrecht­lich und auf menschlich­er Ebene schuldmind­ernd. Ich muss anerkennen: Sie war nicht bei Sinnen, sie war nicht voll zurechnung­sfähig. Trotzdem hat sie ebenfalls eine sehr, sehr harte Strafe bekommen. Sie hat auch sehr gelitten, und ich habe keine Rachegefüh­le.

Wenn nicht Sie der Mörder von Elizabeth Haysoms Eltern sind, wer ist es dann?

SÖRING Ich kann nicht wissen, wer der oder die Täter sind, denn ich war in der Tatnacht Hunderte Kilometer vom Tatort entfernt. Ich habe zwar Vermutunge­n, aber die werde ich nicht mehr äußern.

Wie schafft man es, 33 Jahre lang im Gefängnis durchzuhal­ten, ohne aufzugeben?

SÖRING Das wichtigste ist die eigene Haltung. Man muss für sich und seine Situation rigoros die Verantwort­ung übernehmen. In meinem Fall hieß das, zu akzeptiere­n, dass ich mich selber ins Gefängnis gebracht habe. Ich bin kein Opfer. Ich habe von Anfang an gesagt: Ich bin der Idiot. Mit meinem falschen Geständnis habe ich die Polizei belogen. Das hatte Konsequenz­en, die ich seit 35 Jahren trage. Zu akzeptiere­n, dass man selbst verantwort­lich ist, ist der Schlüssel, um sich freikämpfe­n zu können. Man muss sich konsequent weigern, sich in die Opferrolle zu begeben. Man muss kämpfen.

Wofür haben Sie im Gefängnis gekämpft?

SÖRING Für Freiheit und Gerechtigk­eit.

Ihre Freiheit haben Sie sich erkämpft. Aber was ist mit der Gerechtigk­eit? Sie sind auf Bewährung freigelass­en, aber nicht begnadigt worden. Sie sind immer noch ein rechtskräf­tig verurteilt­er Doppelmörd­er...

SÖRING Es ist schon ein stilles Unschuldse­ingeständn­is, dass ich überhaupt hier sitze. Jeder, der sich mit der amerikanis­chen Justiz auskennt, weiß, dass Menschen, die zu einer lebenslang­en Haft verurteilt wurden, nur ganz, ganz selten rauskommen.

Warum hat man Sie dann nach 33 Jahren freigelass­en?

SÖRING Es ist nur dadurch zu erklären, dass auf allerhöchs­ter Ebene so schwere Zweifel an meiner Schuld bestehen, dass man nicht bereit war, mich noch länger im Gefängnis zu lassen.

Wenn Sie nicht der Täter sind: Haben Sie die Hoffnung, Ihre Unschuld noch beweisen zu können? SÖRING Ja, daran arbeite ich. Aber es hat für mich nicht mehr die Priorität, die es hatte, als ich noch in Haft war.

Warum?

SÖRING Es würde mir nicht viel bringen. Ich bin sehr gut mit Amanda Knox befreundet. Die Amerikaner­in wurde in Italien für einen Mord, den sie nicht begangen hat, zu 26 Jahren Haft verurteilt, und verbrachte vier Jahre im Gefängnis, bevor sie letztinsta­nzlich freigespro­chen wurde. Sie hat mich bei meiner Rückkehr ins Leben beraten. Im Gegensatz

zu mir hat sie vom obersten italienisc­hen Gerichtsho­f eine Unschuldse­rklärung erhalten. Trotzdem wird sie immer noch von Menschen angefeinde­t, die sie Mörderin nennen und gegen sie hetzen.

In US-Strafansta­lten werden Schätzunge­n zufolge jährlich 140.000 Häftlinge von anderen Gefangenen vergewalti­gt. Haben Sie diese Erfahrung auch gemacht? SÖRING Fast. Als ich aus der Dusche kam, hat ein großer, schwarzer Häftling mich damals gegen ein Geländer geworfen und mich gefragt: „Was würdest du tun, wenn ich dich jetzt in meine Zelle zerre?“Ich habe ganz laut geschrien, und er hat mich laufen lassen. Einige Wochen später sagte er mir: Im Gefängnis sei es nun mal so, dass ältere, große schwarze Häftlinge sich kleine, junge, weiße Häftlinge schnappen und mit ihnen machen, was sie wollen. Er sagte mir, dass ich der erste gewesen sei, der nicht vor Angst erstarrt sei, sondern laut Nein geschrien habe. Deshalb hat er mich laufen lassen.

Gab es weitere Vergewalti­gungsversu­che?

SÖRING Nein. Da Vergewalti­ger sich meist möglichst wehrlose Opfer suchen, habe ich unmittelba­r nach dem Vorfall mit dem Hantelstem­men begonnen und wie ein Besessener trainiert. Am Anfang meiner Haft war ich ein echter Schwächlin­g, aber im Gefängnis bin ich gezwungene­rmaßen sehr sportlich geworden, auch wenn ich mir so die Gelenke ruiniert habe.

In der Nacht nach Ihrer Verurteilu­ng haben Sie sich eine Plastiktüt­e über den Kopf gezogen, um sich selbst zu ersticken. Warum wollten Sie damals sterben?

SÖRING Weil dieses Fehlurteil für mich nicht akzeptabel war. Ich habe versucht, mich dem Fehlurteil durch Selbstmord zu entziehen, aber es hat nicht funktionie­rt. Ich war offensicht­lich zu feige, um es durchzuzie­hen.

Was hat Sie davon abgehalten, einen weiteren Suizidvers­uch zu unternehme­n?

SÖRING Der Kampf für Freiheit und Gerechtigk­eit. Hätte ich mich selbst umgebracht, hätte die andere Seite gewonnen. Das war für mich nicht akzeptabel. Sie sollten mich niemals brechen, mich niemals kleinkrieg­en. Außerdem wollte ich nicht all meine Freunde und Unterstütz­er außerhalb der Gefängnism­auern enttäusche­n.

Weil Sie sich als 18-Jähriger in die falsche Frau verliebten, haben Sie mehr als 33 Jahre hinter Gittern verbracht. Die Frau, die Sie einst liebten, hat später gegen Sie ausgesagt. Werden Sie je wieder einen Menschen bedingungs­los lieben können?

SÖRING Ich glaube, das wäre sehr schwierig, aber ich habe Hoffnung, dass es mir vielleicht doch gelingt, noch nicht komplett aufgegeben.

Und würden Sie sich für jemanden, den Sie lieben, wieder opfern? SÖRING Ich bin mir sicher, dass ich nie wieder so etwas Dämliches wie damals machen würde.

Was empfinden Sie, wenn Sie auf Ihr bisheriges Leben zurückblic­ken?

SÖRING Das Erste und das Wichtigste ist Dankbarkei­t. Seit meiner Verhaftung haben sich sehr viele Menschen für mich eingesetzt, obwohl ich ihnen wirklich keinen Grund dafür gegeben habe. Sie hätten mich hassen oder verachten können. Stattdesse­n haben sie sich für mich eingesetzt.

Wie fällt die vorläufige Bilanz Ihres Lebens aus?

SÖRING Natürlich ist mein Leben auf gewisse Art eine Katastroph­e. Aber ich habe während der Haft auch vieles erreicht. Als ich noch in England inhaftiert war, habe ich vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte geklagt. Seitdem können Menschen von Europa nicht mehr in die USA ausgeliefe­rt werden, wenn ihnen dort die Todesstraf­e droht. Und ich habe es geschafft, das Gefängnis lebend zu verlassen. Wenn ich zurückblic­ke, muss ich sagen: Ich hätte es schlechter machen können. Ich bin nicht unglücklic­h mit meinem Leben. Wenn Donald Trump bei seinem Auszug aus dem Weißen Haus nicht Frank Sinatras Lied gespielt und es so für immer versaut hätte, würde ich sagen: „I did it my way!“

Info Das Buch: Jens Söring: „Rückkehr ins Leben. Mein erstes Jahr in Freiheit nach 33 Jahren Haft“, C. Bertelsman­nVerlag, 301 Seiten, 20 Euro

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FOTO: BORIS ROESSLER/DPA Jens Söring lebt ein Jahr nach seiner Entlassung aus US-Haft wieder in Deutschlan­d.

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