Rheinische Post - Xanten and Moers
„Am Ende war ich anlasslos wütend auf alle“
Die Autorin spricht über ihre beängstigenden Erfahrungen mit dem Alkoholismus und sagt, was hilft, sich davon zu befreien.
Manche Menschen werden mit allen Widrigkeiten im Leben fertig und ernten Bewunderung. Doch dazu benötigen sie einen heimlichen Helfer: Alkohol. Oft sind Frauen betroffen. Christine Koschmieder zum Beispiel. Was ihr half, das Problem anzugehen – und die richtigen Fragen zu stellen.
Wenn Frauen trinken, fällt das oft lange nicht auf. Auch Sie selbst mussten sich Ihren Konsum bewusst machen – und sogar Ihrer Familie erst klarmachen, dass Sie ein Problem hatten. Woran liegt das?
KOSCHMIEDER Es gibt ein dominierendes Bild von Alkoholismus: Die sichtbare Alkoholikerin, die rumpöbelt, sich nicht im Griff hat, heruntergekommen aussieht. Davon distanziert sich jeder. Das hat nie etwas mit uns zu tun. Aber es gibt auch einen anderen Alkoholismus. Das ist ein Trinken, das einem Zweck dient, bei dem es also nicht um Genuss geht, sondern darum, dass der Alkohol eine Funktion übernimmt. Das ist dann eingewoben in den Alltag und darum unauffällig.
Welchen Zweck hat der Alkohol bei Ihnen erfüllt?
KOSCHMIEDER In meinem Fall war der Zweck, dem Leben überhaupt standzuhalten und trotz aller Überforderung wahnsinnig gut zu funktionieren. Und damit stehe ich nicht allein. Interessanterweise steigt der Alkoholkonsum laut aktuellen Erhebungen vor allem unter erfolgreichen, akademischen Karrierefrauen. Daran kann man ablesen, wozu der Alkohol gebraucht wird. Auch ich hatte enorme Ansprüche an mich selbst. Etwa, dass ich meine Kinder auch allein großziehen kann. Oder dass ich es wegstecke, dass mein geliebter Mann stirbt. Oder dass ich als Freiberuflerin erfolgreich durchhalte. Das waren alles Vorgaben mit enormem Anspruch, denen ich gerecht werden wollte. Und dann kommt immer noch etwas obendrauf, noch etwas und man bekommt Bewunderung. Man hört so Sätze wie: ,Dass du das alles hinkriegst mit den Kindern, toll, ich könnte das nicht!‘ Ich dachte, ich brauche diese Bewunderung, aber zugleich ist in mir auch ein Widerstand dagegen gewachsen.
Denn durch Bewunderung wird ja der Preis totgeschwiegen, den das Funktionieren kostet.
Worin besteht der Preis? KOSCHMIEDER Der Preis ist, dass Negatives unsichtbar bleibt: Wut über die kapitalistischen Verhältnisse, Trauer über den Tod meines Mannes, Überforderung, weil kein Mensch drei Kinder allein großziehen kann, kaputte Beziehungen. Um all das nicht zu spüren, um nicht zu einer emotionalen Amokläuferin zu werden, ist Alkohol ein tolles Mittel. Mother‘s little helper. Er hilft, auszuhalten, ohne zu reflektieren. Es ist, als hätte sich der Kapitalismus den Alkohol ausgedacht, um die Leute am Laufen zu halten.
Was hätte Ihnen geholfen? Wissenwollen statt Bewunderung? Die Frage: Wie geht es dir wirklich? KOSCHMIEDER Es liegt überhaupt nicht an den anderen. Ich habe gute Freunde, und die haben gefragt. Es hat mit der Einstellung zu Ansprüchen zu tun. Meine Eltern waren selbst Alkoholiker. Studien zeigen, dass Kinder von Alkoholikern oft nicht nur eine Prädisposition zum Trinken besitzen, sondern auch zum Überfunktionieren. Solche Kinder müssen ständig ausgleichen und sind in der Lage, mit Überforderungen zurechtzukommen, bei denen andere kapitulieren würden. Hyperhochleistungsduracelltierchen. Ich bin auch so. Darum musste ich mich sehr lang befragen, warum mich Bewunderung so wütend gemacht hat. Ich war nicht zufrieden mit dem, was ich erreicht habe. Ich war nicht entspannt, nicht glücklich, hatte keine glücklichen Beziehungen und habe mit meinen Kindern Dinge wiederholt, die meine Mutter an mir verbrochen hat. Darum konnten sich meine Kinder mir nicht anvertrauen, sie hatten Angst vor mir. Ich hab sie immer nur abgefragt: Wie läuft die Schule? Welche Sachen brauchst du? Was müssen wir einkaufen? Aber es gab sehr wenig Raum für Verunsicherung, für Zustände. Das zu bemerken, ist sehr bitter.
Als Sie sich Ihrer Abhängigkeit gestellt haben und in Therapie gegangen sind, ist die verdrängte Wut hochgekommen. Ist das typisch Frau, nachvollziehbare Aggressionen
lieber gegen sich selbst zu kehren?
KOSCHMIEDER Davon bin ich überzeugt. Es gab in der Therapie spezifische Gruppenangebote, etwa Umgang mit Wut. Da waren fast nur Männer drin. Bei Frauen ist Wut häufig noch mit dem Vorurteil Hysterie verbunden, mit Zickigkeit. Frauen denken eher: Warum sollte ich wütend sein, das ändert ja auch nichts. Sie denken lösungsorientiert. Aber Wut wächst. Ich bin mit einer Faust im Bauch durchs Leben gelaufen und war am Ende anlasslos wütend auf alle.
Gibt es männliches und weibliches Trinken?
KOSCHMIEDER Ich tue mich schwer mit Geschlechterzuordnung in dieser Frage. Aber es gibt Rollenzuordungen. Die einen versuchen, Aggressivität oder Unsicherheit durch Trinken zu kaschieren. Bei anderen geht es eher um die Betäubung von Gefühlen und das Weiterfunktionieren. Alkoholismus macht sowieso immer nur die Spitze des Eisbergs sichtbar, erst in der Therapie legt man frei, was noch alles unter der Oberfläche steckt – sieben Achtel des Problembergs. Eine trockene Alkoholikerin zu werden, bedeutet auch, diesen Berg trockenzulegen und anzuschauen. Das ist nicht sehr spaßig.
Wie ist Ihnen bewusst geworden, dass Sie ein Alkoholproblem hatten?
KOSCHMIEDER Ich habe vor 20 Jahren meinen Mann verloren und erlebt, wie schwer es Menschen damals gefallen ist, mit mir, der Zurückgebliebenen, in den Jahren darauf umzugehen. Darüber wollte ich eigentlich schreiben, weil ich diese Wut in mir gemerkt habe und dachte, ich werde ein garstiger Mensch, wenn ich den Ursprüngen nicht nachgehe. Ich habe mich um einen Platz in einer psychosomatischen Klinik beworben und auf dem Antragsformular bei Alkoholgefährdung ein Kreuz gemacht. Daraufhin musste ich in eine Suchtberatungsstelle. Die Beraterin hat mir freundliche Fragen gestellt und am Ende des Gesprächs wollte sie wissen, ob ich mir vorstellen könnte, drei Monate in eine Suchtklinik zu gehen. Für mich war diese Frage eine Riesenerleichterung. Ich habe mich überhaupt nicht an
gegriffen gefühlt. Ich hab nur gedacht: Endlich fällt der Ballast ab. Nicht ich bin falsch, nicht die Welt, das Trinken ist das Problem.
Sie haben Ihre eigene Sucht und alles, was dazu geführt hat, in einem Buch sehr ehrlich beschrieben und damit öffentlich gemacht. Warum? KOSCHMIEDER Ich wollte aufmerksam machen auf die Anforderungen, denen wir uns aussetzen, und die uns beschädigen. Die Art, wie wir Beziehungen führen, Kinder erziehen, arbeiten, ist zerstörerisch, und darüber müssen wir sprechen. Aber ich wollte das nicht abstrakt tun und einmal mehr die Heldin sein, die ein Problem beschreibt. Ich wollte erzählen, wohin mich die eigenen Ansprüche geführt haben. Und nun erlebe ich, was für eine Dynamik das entfaltet. Menschen erzählen mir ihre Geschichten. Die haben gar nicht mehr viel mit mir zu tun, aber das ist auch gut so. Ich denke, meine Geschichte erzeugt Resonanz, weil sie eben nicht alleine steht. Darum ist es wichtig, öffentlich und ehrlich über das Problem mit dem Alkohol zu sprechen.