Rheinische Post - Xanten and Moers
Für eine freie Welt
Wolodymyr Selenskyj bringt von seinem Überraschungsbesuch in Washington moralische und militärische Unterstützung zurück in die Ukraine. Die Amerikaner erfüllten aber nicht alle Wünsche des Präsidenten.
WASHINGTON Der Krieg hat auch persönlich Spuren hinterlassen. Ein Blick in das Gesicht des erst 44-jährigen Präsidenten der Ukraine zeigt, wie sich die Sorgen um das von Russland überfallene Land als Falten eingeprägt haben. Seine Augen wirken trauriger, seine Stimme klingt rauer, als sich Wolodymyr Selenskyj am Mittwochabend an die Abgeordneten und Senatoren im US-Kongress wendet.
Was bleibt, ist der olivgrüne Pullover über der Cargohose und den Stiefeln, mit denen der Präsident Solidarität mit den Soldaten demonstriert, die sein Land gegen Russland verteidigen. Von ihnen überreicht er zum Ende seiner gefeierten Rede die Schlachtfahne einer Einheit aus Bachmut, die er noch am Dienstag etwas mehr als 8300 Kilometer vom Kapitolshügel entfernt besucht hatte. „Diese Flagge ist das Symbol unseres Sieges in diesem Krieg“, postuliert Selenskyj und fügt mit Pathos hinzu: „Wir halten stand, wir kämpfen, und wir werden gewinnen, weil wir vereint sind – die Ukraine, Amerika und die ganze freie Welt.“
Bewahrt hat sich der ehemalige Komiker auch die Fähigkeit, Menschen zum Lachen zu bringen. Etwa als Selenskyj nach seinem Dank für die bisher geleistete Militärhilfe in Höhe von mehr als 21 Milliarden Dollar den Kongress fragt: „Ist das genug?“Nach einer rhetorischen Pause gab er die Antwort selbst. „Offen gesagt, nicht wirklich.“Dass die Kongressabgeordneten verlegen lachen, ist der vielleicht symbolischste Moment des Mitte Dezember bei einem Telefonat mit US-Präsident Joe Biden eingefädelten Überraschungsbesuchs.
Immerhin erfüllt Biden seinem Amtskollegen, dem er beim Empfang im Rosengarten des Weißen Hauses väterlich die Hand auf die Schulter legt, einen dringlichen Wunsch: Der US-Präsident gibt im Rahmen zusätzlicher 2,2 Milliarden Dollar Militärhilfe die Bereitstellung einer Batterie des leistungsfähigen Patriot-Luftabwehrsystems frei. Dieses wird aus Beständen der Nato in Europa geliefert und soll der Ukraine helfen, sich besser gegen die Angriffe auf ihre zivile Infrastruktur zu schützen. Die Ausbildung wird vermutlich im bayerischen Grafenwöhr erfolgen.
Eine ukrainische Journalistin will während der gemeinsamen Pressekonferenz im East Room des Weißen Hauses von Biden wissen, warum die Amerikaner nur scheibchenweise die Waffen bereitstellten, die das Land für eine Befreiung von den Besatzern benötige. Damit spielt sie auf die unerfüllten Wünsche auf der Liste der Ukraine an: Kampfflugzeuge, Raketen mit größerer Reichweite und schwere Panzer. Biden räuspert sich. Und versucht eine Antwort: Er habe „Hunderte Stunden“mit den Partnern in Europa verbracht, um für die Fortsetzung der Hilfen für die Ukraine zu werben. „Sie verstehen das vollkommen, aber sie versuchen auch einen Krieg mit Russland zu vermeiden“– so signalisiert der Präsident, dass er sich mehr vorstellen könnte, die Einheit des Westens aber wichtiger sei. „Sie wollen keinen Dritten Weltkrieg.“
Selenskyj wirkt nicht unzufrieden mit dem, was er bei dem mehr als zweistündigen Gespräch am knisternden Feuer im Oval Office erreichen konnte. Zumal sich Republikaner und Demokraten im US-Kongress auf einen Haushaltsentwurf verständigt haben, der weitere knapp 45 Milliarden US-Dollar zur Unterstützung der Ukraine vorsieht; ein Großteil davon für den Nachschub an Munition sowie die Finanzierung zusätzlicher Aufwendungen der US-Truppen in Europa.
In seiner Rede vor dem Kongress kommt Selenskyj auf das Thema zurück. Sein Land kämpfe „stellvertretend für die ganze Welt gegen Putins autokratisches Regime“. Es gehe auch darum, „bis nach China“andere Aggressoren in Schach zu halten. „Ihr Geld ist keine wohltätige Spende. Es ist eine Investition in die globale Sicherheit und Demokratie, und wir werden damit äußerst verantwortungsbewusst umgehen.“
Der Fraktionschef der Republikaner, Kevin McCarthy, der am 3. Januar zum Sprecher der Kammer gewählt werden möchte, fühlt sich angesprochen. Hatte er doch im November erklärt, unter seiner Führung werde es keine Blankoschecks mehr für die Ukraine geben. Während viele andere Konservative klatschen, reibt sich McCarthy verlegen die Hände; obwohl er vor der Rede mit Selenskyj zusammengetroffen ist. Er weiß, dass er mit der hauchdünnen Mehrheit seiner Partei die Stimmen rechter Isolationisten braucht, die sich demonstrativ nicht rühren oder erst gar nicht erschienen sind.
Selenskyj versteht bei seinem Überraschungsbesuch, wen er erreichen muss. Am wenigsten Präsident Biden, der ihm öffentlich die Unterstützung der USA zusichert, „solange es nötig ist“. Ab Januar benötigt er für die Erfüllung dieses Versprechens auch die Republikaner im Repräsentantenhaus, die Haushaltsmittel dafür bewilligen müssen.
Die Historikerin Doris Kearns Goodwin meint, Selenskyj habe sein Publikum geschickt an den Besuch Winston Churchills im Kriegsjahr 1941 zwei Tage vor Weihnachten erinnert. „Er hat die Vorstellung bei den Amerikanern verankert, dass wir in einem Boot sitzen“– verbunden mit dem Appell, der Ukraine jetzt die Werkzeuge zu geben, „den Job zu erledigen“.
Dass Selenskyj ein halbes Dutzend Mal Weihnachten erwähnte, verstehen Analysten auch als unterschwellige Botschaft an die Republikaner, die ein Thema daraus gemacht haben, „Merry Christmas“statt des religiös neutralen „Happy Holidays“zu sagen. Das Crescendo seiner Rede sei deshalb bewusst gewählt gewesen. „Frohe Weihnachten! Und ein siegreiches neues Jahr!“