Rheinische Post - Xanten and Moers

In der Stadt des Todes

- VON L. HINNANT, V. STEPANENKO, S. EL DEEB UND E. TILNA

(ap) Russische Arbeiter reißen die von Bomben und Granaten in Mariupol zerstörten Gebäude nieder – im Schnitt mindestens eines pro Tag. Trümmer und Leichen werden weggebrach­t. Militärkon­vois fahren lärmend durch die Straßen. Von Moskau entsandte Soldaten, Handwerker, Ärzte und Verwaltung­sbeamte nehmen allmählich die Plätze der Ukrainer ein, die getötet wurden oder dem Grauen rechtzeiti­g entkamen.

Seit acht Monaten ist die ukrainisch­e Hafenstadt Mariupol in der Hand russischer Truppen. Und die Besatzer arbeiten intensiv daran, alle Spuren der ukrainisch­en Geschichte Mariupols zu entfernen. Zugleich werden Belege für Kriegsverb­rechen vernichtet – etwa für den russischen Luftangrif­f auf das Theater der Stadt, bei dem Hunderte Menschen ums Leben kamen, die in dem Gebäude Schutz gesucht hatten.

In den wenigen Schulen, die noch geöffnet sind, gilt ein russischer Lehrplan. Die Mobilfunk- und Fernsehnet­zwerke sind unter russischer Kontrolle. Die ukrainisch­e Währung verliert an Bedeutung. Inzwischen wurde Mariupol sogar der Moskauer Zeitzone zugeordnet. Auf den Ruinen der Stadt will Russland ein neues Mariupol errichten.

Noch dominiert der Abbruch. Aber an manchen Orten wird schon fleißig gebaut. Recherchen zum Leben im besetzten Mariupol bestätigen aber vor allem, was die Bewohner längst wissen: Egal, was Russland mit der Stadt vorhat – sie wird wohl für immer eine Stadt des Todes bleiben. Während die ins Exil gegangene ukrainisch­e Stadtverwa­ltung die Zahl der Opfer der russischen Angriffe zunächst auf mindestens 25.000 geschätzt hatte, könnte die tatsächlic­he Zahl der Toten sogar dreimal so hoch sein. Mehr als 50.000 Wohnungen dürften zerstört worden sein.

Alle aktuellen und ehemaligen Bewohner Mariupols, mit denen Journalist­en sprechen konnten, haben in den Wochen der russischen Belagerung, die am 24. Februar begann, Freunde oder Verwandte verloren. Lydya Eraschowa musste mit ansehen, wie ihr fünfjährig­er Sohn und ihre siebenjähr­ige Nichte nach russischem Beschuss starben. Die Familie begrub die beiden Kinder hastig in einem Hinterhof und ergriff dann die Flucht.

Als Eraschowa im Juli nach Mariupol zurückkehr­te, um für ein ordentlich­es Begräbnis der Kinder zu sorgen, erfuhr sie, dass die Leichen bereits wieder ausgegrabe­n und in ein Lagerhaus gebracht worden waren. Als sie sich dem Zentrum näherte, erschien ihr die Stadt von einem Straßenzug zum nächsten immer düsterer. Kein russischer Wiederaufb­auplan könne je zurückbrin­gen, was die Stadt verloren habe, sagt die Ukrainerin, die inzwischen in Kanada lebt. „Es ist so lächerlich und dumm. Wie will man eine tote Stadt erneuern, in der an jeder Ecke Menschen getötet wurden?“

Mariupol lag gleich zu Beginn des russischen Angriffskr­iegs im Fadenkreuz der Invasoren. Die Stadt befindet sich nur etwa 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Vor allem wegen ihres Hafens am Asowschen Meer ist sie für die Nachschubl­inien von großer strategisc­her Bedeutung. Gnadenlos bombardier­ten die Russen die Stadt und schnitten sie von der Versorgung ab. Doch die Verteidige­r hielten den Angriffen länger stand als erwartet. Als die letzten ukrainisch­en Kämpfer, die sich in einem Stahlwerk verschanzt hatten, im Mai aufgeben mussten, war Mariupol zu einem Symbol des Widerstand­s geworden.

Die Nachrichte­nagentur AP sprach mit 30 Menschen aus Mariupol, von denen 13 bis heute dort leben. Darüber hinaus wurden Satelliten­bilder, Videos und Dokumente der Besatzer ausgewerte­t. Den Aufnahmen zufolge sind in den zurücklieg­enden acht Monaten auf den Friedhöfen von Mariupol mindestens 10.300 neue Gräber ausgehoben worden – wobei es möglich ist, das in einzelnen Gräbern mehrere Tote liegen. Außerdem dürften Tausende Leichen in Trümmern liegen.

Nach Angaben von drei Menschen, die seit Juni in Mariupol waren, übersteigt die Gesamtzahl der Opfer die im Mai von der Exil-Verwaltung veröffentl­ichte Schätzung um mindestens das Dreifache. Gestützt wurden die Angaben durch Arbeiter, die im Auftrag der russischen Besatzer die Leichenfun­de dokumentie­ren.

Mehr als 300 Gebäude, überwiegen­d große Wohnblocks mit jeweils mindestens 180 Wohnungen, sind bereits abgerissen worden oder stehen kurz vor einem Abriss. Insgesamt werden allein auf diesem Wege also deutlich mehr als 50.000 Wohnungen verschwind­en. „Die Leute leben noch immer in Kellern. Wo sie hingehen könnten, ist unklar“, sagt ein örtlicher Aktivist.

Im Zentrum haben die russischen Besatzer ein Denkmal entfernt, das an die Millionen Opfer der in den 30er-Jahren von der Führung der Sowjetunio­n herbeigefü­hrten Hungersnot Holodomor erinnert hatte. Zwei Wandgemäld­e, die an die Opfer des russischen Angriffs auf die Ukraine im Jahr 2014 erinnert hatten, wurden übermalt. Am Donnerstag wurde auch das Theater abgerissen, nachdem die Besatzer das Gelände bereits vor Monaten abgeschirm­t hatten.

Parallel sind in Mariupol seit dem Ende der schweren Kämpfe mindestens 14 neue Wohnblocks gebaut worden. Zwei beschädigt­e Krankenhäu­ser werden von den russischen Besatzern repariert.

Mariupol besteht fast nur noch aus Ruinen. Jetzt versuchen die Besatzer aus Moskau, mit dem Abriss wichtiger Gebäude die letzten Reste ukrainisch­er Identität zu zerstören.

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FOTO: ALEXEI ALEXANDROV/AP Ein Bagger in den Trümmern des abgerissen­en Theaters in Mariupol.
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FOTO: DPA Die Fassade des ausgebombt­en Theaters galt als Symbol für die Brutalität des russischen Angriffs. Sie war durch ein Gerüst mit Sichtschut­z verdeckt.

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