Rheinische Post - Xanten and Moers
„Straßenblockaden in dieser Form sind Quatsch“
Die NRW-Wirtschafts- und Klimaministerin spricht über die Konjunktur, Hilfe für Kleinunternehmer und die Belastungen durch die anstehende Räumung in Lützerath.
Frau Neubaur, Sie haben schon vor Monaten eine Lockerung der Schuldenbremse gefordert. Hätte Hendrik Wüst auf Sie gehört, wäre der Koalition Ärger erspart geblieben, oder?
NEUBAUR
Ich habe damals darauf hingewiesen, dass es sinnvoll gewesen wäre, wenn der Bund auch für das Jahr 2023 die Ausnahmeregelung bei der Schuldenbremse zugelassen hätte. Das wäre für die Länder ein rechtssicherer Weg gewesen, um diesen Schritt im Zweifel auch zu gehen. Wir leben in sehr dynamischen Zeiten. Lagen verändern sich manchmal innerhalb eines Tages dreimal. Gerade erleben wir, wie Putin gezielt die zivile Energieinfrastruktur der Ukraine zerstört, um Menschen in die Flucht zu treiben. Um darauf vorbereitet zu sein, müssen wir in Land und Kommunen ausreichend Mittel zur Verfügung haben. Aber es stimmt: Das Haushaltsverfahren wurde mit dem einen oder anderen Umweg beschritten.
Man könnte auch von Chaos sprechen…
NEUBAUR
Wir haben auf die Hinweise von Experten schnell reagiert und dann neue Wege gefunden. Wir gehen nicht beratungsresistent mit dem Kopf durch die Wand. Entscheidend ist, dass die Mittel zur Verfügung stehen, um jetzt schnell die Menschen, soziale Einrichtungen und Unternehmen konkret zu entlasten. Aufgrund unserer wirtschaftlichen Struktur mit vielen energieintensiven Branchen, die überproportional von Kostenexplosionen getroffen sein wird, haben wir die Notlage jetzt für das kommende Jahr erklärt.
Die Wirtschaftsstruktur des Landes NRW ist ja nicht erst seit wenigen Tagen, wie sie ist. Warum haben Sie nicht – wie andere Länder – früher eigene Maßnahmen auf den Weg gebracht?
NEUBAUR
Es sollten zielgenaue Entlastungen sein. Dafür musste erst einmal klar sein, welche Dinge die Hilfspakete des Bundes nicht abdecken. Wir werden ab Anfang des Jahres auszahlen können. Daran arbeiten gerade alle Ressorts mit Hochdruck.
Auch gegen das Sondervermögen könnte die Opposition klagen. Der Vorwurf: Sie finanzieren damit schwarz-grüne Wunschprojekte, die nicht mit einem schuldenfinanzierten Rettungstopf, sondern dem regulären Haushalt finanziert werden müssen.
NEUBAUR
Wir finanzieren mit dem Sondervermögen einzelne Projekte mit einer kurzfristigen Wirksamkeit zur Bekämpfung der Energiekrise. Es geht nicht darum, Lieblingsprojekte der Zukunftskoalition mit Schulden zu realisieren. Bereits der Koalitionsvertrag wurde unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs geschlossen. Wir müssen wegkommen von fossiler Energie, von Gas und Öl.
Was sind Ihre Konjunkturerwartungen für die kommenden Monate?
NEUBAUR
Nach den jüngsten Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums richten wir uns in Deutschland auf eine milde Rezession ein.
Damit sind aber die Bedenken gegen das Erklären einer finanziellen Notlage für das kommende Jahr berechtigt.
NEUBAUR
NRW wird wegen seiner Wirtschaftsstruktur härter von der Rezession getroffen sein. Alle Prognosen stützen diese Einschätzung. Wir haben die Grundstoffindustrien Chemie, Glas, Stahl, Aluminium und Papier bei uns, diese Branchen sind sehr energieintensiv. Die Preisbremsen der Bundesregierung geben aber zumindest eine gewisse Planungssicherheit für alle Unternehmen in NRW bis 2024. Das ist ein nicht zu verachtender positiver psychologischer Effekt.
Die Energiepreisbremsen sind ein teures Unterfangen, die Krise kann lange dauern. Sehen Sie überhaupt die Möglichkeit, dass der Staat 2024 erneut zu einem Doppelwumms ausholen könnte?
NEUBAUR
Wir müssen jetzt die Zeit nutzen, um in die Transformation zu investieren, um uns unabhängiger zu machen. Das wird sich dann auch in den Preisen niederschlagen und dazu beitragen, dass weniger staatliche Hilfen notwendig sein werden. Die Kraftanstrengung dafür wird gewaltig, weil wir ja stapelweise Krisen haben: gestörte Lieferketten, die CoronaPandemie, ein hoher Krankenstand in nahezu allen Branchen. Es kommt viel Arbeit auf uns zu.
Für kleine und mittelgroße Unternehmen soll es einen Härtefallfonds geben, wenn die Energiepreisdeckel nicht wirken. Wie schnell stehen die 100 Millionen Euro dafür zur Verfügung?
NEUBAUR
Für den Härtefallfonds, mit dem wir als Land die Härtefallhilfen aus Bundesmitteln ergänzen, wird gerade eine Plattform programmiert, weil es ein volldigitaler, bürokratiearmer Prozess sein soll. Sie wird Anfang Februar zur Verfügung stehen, sodass wir ab dann mit den ersten Zahlungen rechnen können.
Wer soll der Härtefallkommission angehören?
NEUBAUR
Bei der dafür nötigen Einzelfallprüfung setzen wir neben unseren eigenen Fachleuten auf die bewährte Expertise von Vertreterinnen und Vertretern der Industrie und Handels sowie der Handwerkskammern.
Im Zuge der Krise kommt es zur Uniper-Verstaatlichung. Eine Auflage
ist, das Kraftwerk Datteln zu verkaufen. Ist es überhaupt noch realistisch, für ein fossiles Kraftwerk mit festgelegtem Enddatum einen Käufer zu finden?
NEUBAUR
Das wird herausfordernd für Uniper.
Trivial ist diese Frage aber nicht. Immerhin wird mit dem Strom im großen Stil die Deutsche Bahn beliefert.
NEUBAUR
Wie gesagt: eine große Herausforderung für Uniper. Gerade weil dies keine triviale Frage ist und auch Lieferverträge geschlossen sind, ist es nicht klug, diesen Prozess durch gut gemeinte Ratschläge zu kommentieren. Hier braucht es jetzt eine Prüfung aller Möglichkeiten, die nicht in der Öffentlichkeit ausgetragen werden sollte.
Ein Teil der Transformation ist das Thema Wasserstoff. Für die Stahlproduktion sind gewaltige Mengen nötig. Wo sollen die herkommen?
NEUBAUR
Wir müssen ein Netz für grünen Wasserstoff aufbauen, welches europaweit die Erzeugungsund Verbrauchszentren sowie die Importhäfen miteinander verbindet. Dafür müssen wir zeitgleich unsere Stromversorgung neu denken. Wir brauchen eine Überproduktion erneuerbarer Energie, damit wir auch hier in Deutschland und Europa Wasserstoff herstellen können. Und natürlich brauchen wir dafür schnellstmöglich neue Leitungen und stabile Netze, denn die Unternehmen bauen schon jetzt ihre Anlagen. Wir wissen aber auch, dass wir Wasserstoff in großen Mengen importieren müssen.
Inwieweit spielt in Ihren Überlegungen Wasserstoff eine Rolle im Individualverkehr?
NEUBAUR
Vorrangig geht es darum, Gas und Kohle in der Industrie zu ersetzen, um die Wertschöpfung im Land zu halten. Das hat ganz klar Priorität, aber danach müssen wir uns um die schweren Güterund Personenverkehre – wie etwa Lkw, Müllfahrzeuge oder Busse – kümmern, die nicht batterieelektrisch von A nach B kommen können. Diese Fahrzeuge verursachen etwa 50 Prozent unserer CO2Emissionen im Straßenverkehr, machen aber nur circa zehn Prozent unseres Fuhrparks aus.
Das Ziel der Landesregierung ist es, 1000 neue Windräder bis zum Ende der Legislaturperiode zu bauen. Wenn es im aktuellen Tempo weitergeht, ist das Ziel utopisch.
NEUBAUR
Wir werden in diesem Jahr den Erlass fertigstellen, der ermöglicht, dass Windräder auf vom Borkenkäfer zerstörten Waldflächen wie auch in Nadelwäldern geplant werden können. Auch den Ausbau der Fotovoltaik auf Freiflächen entlang von Autobahnen und Schienenwegen treiben wir voran, um den jährlichen Ausbau massiv zu steigern. Wir werden das schrittweise tun, um nicht die Akzeptanz zu gefährden, aber wir werden die Fesseln beim Ausbau der Erneuerbaren abstreifen. Gerade erst wurde im Landtag die 1000MeterAbstandsregel fürs Repowering – also den Ersatz von Altanlagen – beraten, das Gesetz sollte noch im ersten Quartal 2023 beschlossen werden.
Wo stehen Sie aktuell bei den Windkraft-Zielen?
NEUBAUR
Wenn es nach mir ginge, wären wir natürlich viel weiter. Aber wir müssen einiges aufholen und dürfen dabei die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, den Naturschutz oder die Raumordnung nicht außer Acht lassen. Wir sind im Bundesländervergleich auf Platz zwei beim Ausbau der Windkraft – wenn auch zugegebenermaßen bundesweit auf zu niedrigem Niveau.
Die Projektierer halten sich gerade extrem zurück mit neu beantragten Anlagen. Beunruhigt Sie das?
NEUBAUR
Die Erneuerbaren bleiben ein lukratives Geschäftsfeld. Aber es ist natürlich so, dass Wirtschaftsunternehmen genau prüfen, wenn sie beim Bau eines Windparks vor Ort eine Abgabe an die Kommune leisten müssen. Letztlich geht es auch um Akzeptanz – und wenn die Bürger sehen, dass das Projekt ihnen Geld für Jugendzentren, Schwimmbäder oder den städtischen Kindergarten in die Kassen spült, baut das Vorbehalte ab. In eine gleiche Richtung geht das geplante Bürgerenergiegesetz, mit dem sich die Bürger an dem Ausbau beteiligen können.
Die SPD hat Ihnen vorgeworfen, falsche Prioritäten zu setzen, weil Sie die Windenergietage in Bad Driburg geschwänzt haben und lieber zur Medica in Düsseldorf gegangen sind. Was war da los?
NEUBAUR
Ich bin nicht nur Ministerin für Windenergie, sondern für alle Bereiche unserer Wirtschaft. Die Medica ist die weltweite Leitmesse für medizinische Produkte. NRW ist sehr stark in der Biotechnologie und Biomedizin. Die SPD unterschlägt, dass die Landesregierung durch den Umweltminister Oliver Krischer prominent auf den Windenergietagen vertreten war.
Schwarz-Grün ist ein Novum in NRW. Wie bewerten Sie bislang die Zusammenarbeit?
NEUBAUR
Wir haben ein Miteinander auf Augenhöhe gefunden. Wir respektieren auch die Grenzen der jeweils anderen Seite und haben es bislang immer geschafft, Lösungen zu finden. Menschlich läuft es ebenfalls sehr gut. Und trotzdem werden wir uns als Grüne treu bleiben.
Eine Bewährungsprobe dafür dürfte die Räumung von Lützerath werden.
NEUBAUR
Wir haben einen um acht Jahre vorgezogenen Kohleausstieg für NRW durchgesetzt, fünf Dörfer gerettet, rund 280 Millionen Tonnen Kohle bleiben sicher unter der Erde. Obwohl die beiden Meiler aus Neurath länger als geplant Braunkohle für die Energieversorgungssicherheit verstromen, haben wir es geschafft, Garzweiler II physisch zu verkleinern. Politik muss manchmal auch schwierige Entscheidungen treffen. Natürlich ist es für den Klimaschutz keine gute Sache, dass wir aus der Not heraus jetzt tempo
Mona Neubaur neben dem stellvertretenden Regierungssprecher Jan Miebach im Gespräch mit Chefredakteur Moritz Döbler und Landeskorrespondent Maximilian Plück (v.l.).
rär mehr CO2 emittieren.
Die Lützerath-Aktivisten kritisieren Sie genau dafür.
NEUBAUR
Ich versuche immer den Abwägungsprozess nachvollziehbar zu erklären und die eindeutige rechtliche Lage zu erläutern. Dass das nicht vergnügungssteuerpflichtig ist, dürfte klar sein. Das äußert sich auch in immer stärkeren Anfeindungen. Es hilft aber nicht, sich wegzuducken. Ich glaube an die Kraft des Dialogs und rede mit den Aktivistinnen und Aktivisten, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Das sind anstrengende Gespräche für beide Seiten.
Was nehmen Sie aus den Gesprächen mit?
NEUBAUR
Besonders junge Menschen haben große Sorge, dass die Politik zu wenig für den Klimaschutz tut, das Thema nicht ernst nimmt. Deshalb versuche ich klarzumachen, dass wir durch einen exogenen Schock wie den Krieg in der Ukraine und die Versäumnisse der Vergangenheit jetzt temporär mehr CO2Emissionen in Kauf nehmen müssen. Die gesamte Landesregierung arbeitet aber ressortübergreifend daran, dass wir den 1,5GradPfad einhalten.
Die „Letzte Generation“setzt sich auch für Klimaschutz ein. Wie bewerten Sie deren Protest?
NEUBAUR
Ich verteidige das Recht auf Protest, die Versammlungs und Meinungsfreiheit mit allem, was ich habe. Ab dem Moment, wo Protest dazu führt, dass man mehr über die Form als das Ziel redet, ist er der Sache nicht dienlich.
Also halten Sie Straßenblockaden für Quatsch?
NEUBAUR
NEUBAUR
NEUBAUR
NEUBAUR
In dieser Form: ja.
Wie groß ist Ihre Sorge vor einer Eskalation in Lützerath ähnlich wie im Hambacher Forst?
Der Fall Lützerath ist anders gelagert, weil die rechtliche Situation ausgeurteilt ist. Ich kann nur appellieren, dass das so gewaltfrei wie möglich vonstattengeht. Alle Seiten müssen zur Deeskalation beitragen.
Sind Sie denn zuversichtlich, dass es ohne Gewalt gelingt?
Ich werde mein Möglichstes dazu beitragen, dass es nicht eskaliert. Wir werden das als Koalition gemeinsam durchstehen.
Wir sprachen eben über Ihre Koalition. Auch im Bund regieren die Grünen mit. SPD-Chef Lars Klingbeil hat der Ampel eine „3 plus“gegeben. Welche Note würden Sie vergeben?
Ich werde mich hüten, Noten zu verteilen, weder hier noch dort. Zeugnisse enthalten aber häufig schriftliche Anmerkungen. Bei der Bundesregierung lautet meine: Gerade in Krisenzeiten ist ein echtes Miteinander über die politischen Ebenen hinweg nötig. Der Bund sollte die Länder früher einbinden, um schneller zu besseren Lösungen zu kommen.
MORITZ DÖBLER UND MAXIMILIAN PLÜCK FÜHRTEN DAS INTERVIEW.