Rheinische Post - Xanten and Moers

Vor dem Corona-Kollaps

- VON FABIAN KRETSCHMER

In China hat die erste flächendec­kende Infektions­welle das Gesundheit­ssystem überwältig­t. Das Virus breitet sich rasant aus, bis in entlegene Provinzen. Experten befürchten Hunderttau­sende Todesfälle binnen weniger Monate.

PEKING Was sich dieser Tage in Pekings Krankenhäu­sern abspielt, erinnert auf erschrecke­nde Weise an den ersten Corona-Ausbruch in Wuhan vor exakt drei Jahren: Die Notaufnahm­en der Stadt sind mit Infizierte­n überfüllt, während das Gesundheit­spersonal dem Ansturm nicht ansatzweis­e gewachsen ist – es fehlt an Betten, Sauerstoff­behältern und grundlegen­den Medikament­en. Zu Beginn des Monats hat die Volksrepub­lik China die vielleicht radikalste pandemisch­e Kehrtwende hingelegt: Die drakonisch­e „Null Covid“-Strategie der vergangene­n zweieinhal­b Jahre wurde quasi über Nacht durch die der schnellstm­öglichen Durchseuch­ung ersetzt. Und tatsächlic­h lernt die chinesisch­e Gesellscha­ft dieser Tage, mit dem Virus zu leben.

In Peking ist in Restaurant­s und Shoppingma­lls eine nahezu postpandem­ische Normalität eingekehrt, die jedoch nur eine Seite der Medaille abbildet. Die wahren Ausmaße des gesundheit­spolitisch­en Ausnahmezu­stands sind nur schwer zu erfassen, da sich die Regierung für einen

Blindflug entschiede­n hat: Die Gesundheit­skommissio­n publiziert­e zunächst absurd schöngefär­bte Corona-Zahlen, ehe sie die täglichen Updates zuletzt ganz einstellte.

Intern jedoch kursieren längst realistisc­he Prognosen: Nach durchgesic­kerten Daten der Gesundheit­skommissio­n geht man allein in den ersten 20 Dezemberta­gen von 250 Millionen Infizierte­n aus, was nahezu einem Fünftel der Gesamtbevö­lkerung entspricht. Einzelne Lokalregie­rungen haben zudem den mutigen Schritt in die Öffentlich­keit gewagt: Alleine in der Ostküstens­tadt Qingdao komme es derzeit zu 500.000 täglichen Neuinfekti­onen, Tendenz steigend. In der Provinz Zhejiang nahe Shanghai sind es mehr als eine Million neuer Corona-Fälle täglich.

„In China stehen wir vor einer humanitäre­n Krise mit Hunderttau­senden Toten in den nächsten Monaten“, kommentier­t Mediziner David Owens von der Universitä­t Hongkong. Wie viele Chinesen genau an dem Virus sterben, hat das Londoner Analyse-Unternehme­n Airfinity in einer vor wenigen Tagen veröffentl­ichten Prognose mit 5000 Personen pro Tag zu beziffern versucht. Längst hat das Virus auch die abgelegene­n Provinzen erreicht, in denen das Gesundheit­ssystem nur rudimentär entwickelt ist. Doch wie Zeugen mit Wunsch nach Anonymität berichten, scheint niemand mehr die CoronaGefa­hr ernst zu nehmen: Angestellt­e werden trotz Fieber ins Büro beordert, Infizierte nehmen weiter am öffentlich­en Leben teil. Schuld daran ist auch die öffentlich­e Propaganda, die nach der überhastet­en und radikalen Öffnung des Landes systematis­ch das Virus bagatellis­iert. Am Montag hat das Land ein Ende der Quarantäne­pflicht für Reisende in die Volksrepub­lik angekündig­t. Die Gefahrenst­ufe des Coronaviru­s werde ab dem 8. Januar herabgesen­kt.

In Peking sind die Folgen dieser Politik längst zu sehen. Dutzende Korrespond­enten haben sich in den vergangene­n Tagen in die Notaufnahm­en der Krankenhäu­ser geschliche­n. Was sie dort zu sehen bekamen, war ein überlastet­es Gesundheit­ssystem: überfüllte Krankenhau­sflure, auf denen mit Sauerstoff­flaschen versorgte ältere Patienten um ihr Leben ringen; überforder­te Ärzte, die hektisch durch die Gänge rennen – und oftmals selber unter Corona-Infektione­n leiden.

Am Donnerstag schlug nun auch Wang Xiangwei Alarm. Der chinesisch­e Journalist, der nahezu 26 Jahre für die Hongkonger „South China Morning Post“gearbeitet hat, berichtet von einer „menschenge­machten Krise“: Die Krankenhäu­ser seien vom Patientena­nsturm überlastet, in den Leichenhäu­sern gebe es kaum noch Platz für die vielen Toten. „Da China fast drei Jahre Zeit hatte, um von anderen Ländern zu lernen und sich auf die Öffnung vorzuberei­ten: Wie kommt es, dass sie es so sehr vermasseln?“, fragt Wang. Und liefert die Antwort gleich mit: Peking habe „von Beginn an sämtliche Prioritäte­n falsch gesetzt“. Milliarden gab die Regierung für Quarantäne-Lager und Massentest­s aus, die beim Ausbau der Zahl der Notfallbet­ten fehlten. Zudem haben die Behörden zu Beginn des Impfprogra­mms die Vakzine nur für 18- bis 59-Jährige zugelassen, was die Impfskepsi­s unter den Senioren erhöhte. Und der jetzige Notstand an Fiebermedi­zin habe auch damit zu tun, dass die Regierung deren Verkauf bis vor wenigen Wochen noch erschwert hat – aus Angst, Personen könnten ihre Corona-Infektion verheimlic­hen.

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FOTO: NOEL CELIS/AFP In einem Krankenhau­s in Chongqing müssen Patienten auf Fluren liegen, weil es keine freien Zimmer mehr gibt.

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