Rheinische Post - Xanten and Moers
Endlich klar
Erst hat Sido mit Maske gerappt, dann ohne. Nach überstandenem Drogenentzug zeigt er nun sein wahres Gesicht auf dem Album „Paul“. Es ist ein Meisterwerk geworden.
Paul Würdig, 42 Jahre alt, graue Haare, grauer Bart, aufgewachsen im Berliner Osten, wäre gern Koch geworden. Vielleicht wäre er in einem seiner Lieblingsrestaurants gelandet, im 893 Ryotei auf der Kantstraße in Berlin zum Beispiel, bei seinem Kumpel, dem Gastronomen The Duc Ngo. Vielleicht hätte er auch in einer bodenständigen Gaststätte gearbeitet.
Sein Signature Dish, sein kulinarisches Markenzeichen, sind nämlich Rouladen mit Rotkohl und Kartoffeln, wie Würdig gerade einem Reporter der „Süddeutschen Zeitung“erzählt hat. Keine Vorspeise, keine Nachspeise. Nur Rouladen, gutbürgerlich. Paul Würdig ist aber nicht Koch geworden, sondern Sido.
Der Beruf des Sido hat ihn in die höchsten Höhen geführt, an die Spitze der deutschen Albumcharts, zu Abendgalas, ins Fernsehen, zu Preisen und Auszeichnungen, zu sehr viel Geld und mehreren Immobilien, zum Status eines der berühmtesten deutschen Musiker der Gegenwart, so viel ist bekannt. Sido hat Paul Würdig aber auch in die tiefsten Tiefen geführt, an die Grenze von Leben und Tod.
Nach der Trennung von seiner Frau Charlotte, während die Corona-Pandemie ausbrach, verfiel Würdig den Drogen. Dem „Spiegel“hat er erzählt, dass ihm sein Freund und Kollege Kool Savas plötzlich eine dreiminütige Sprachnachricht geschickt hat. Der soll darin sehr besorgt geklungen haben, Würdig mit zittriger Stimme gebeten haben, sich bitte endlich Hilfe zu suchen.
Würdigs Ex-Frau Charlotte besorgte ihm einen Platz in der Psychiatrie und fuhr ihn laut dieser Erzählung auch hin. Er blieb gut zwei Monate, machte einen Entzug. Die ersten fünf Wochen durfte er nicht raus: „Gruppentherapie,
Einzelsitzungen, Basteln, Malen, Musiktherapie, Wandertherapie – der ganze Tag war durchstrukturiert“, hat Würdig der „SZ“erzählt.
Es stand offenbar ernst um den Mann, der Sido geworden ist und nicht mehr wusste, wer Paul Würdig eigentlich ist oder wie. „Ohne den Entzug und die körperlichen Checks in der Klinik hätte ich diesen Sommer vermutlich nicht überlebt“, sagte er dem „Spiegel“.
Nun ist „Paul“erschienen, Sidos neuntes Studioalbum. Darauf erzählt der Rapper von seinem umfassenden Drogenmissbrauch. Davon, dass das Psychopharmakon Diazepam sein Bodyguard war, und wie lang seine Line Koks. „Und wieder greif’ ich nach dem Gift, weil nichts so scheiße ist wie ich“, singt Sido in „Medizin“.
Zu Beginn seiner Karriere hat Sido sein Gesicht hinter einer silbernen Maske verborgen, dann hat er sie irgendwann abgelegt. Aber erst jetzt, im Spätherbst 2022, auf „Paul“, zeigt Sido sein wahres Gesicht. Er lässt einen Blick in sein Inneres zu, in eine schwere Zeit.
Man hört ihn leiden auf dem Album, dass er nicht loskommt von den Drogen, dass er einsam ist und dass er es vermasselt hat mit seiner Familie und den Kindern. „Aua, das zu schreiben tut mir weh“, rappt er in „Rollender Stein“. „Gestern war ich noch den Sternen nah, und jetzt falle ich, aber niemand hält mich fest“, singt er in „Sterne“.
Paul Würdig hat seine Geschichte in den vergangenen Wochen häufiger erzählt, in Interviews und Podcasts. Von den obersten Richtern auf Twitter ist ihm deswegen vorgeworfen worden, dass er das alles bloß aus Promogründen mache, um sein neues Album zu bewerben. Als sei es verwerflich, dass ein Künstler sein Kunstwerk verkaufen will.
Mentale Gesundheit ist kein Tabuthema mehr, meistens jedenfalls.
Man hört ihn leiden, dass er nicht loskommt von den Drogen, einsam ist und es vermasselt hat mit seiner Familie
Menschen sprechen offen darüber, dass sie in Therapie sind, Hilfe brauchen, und ermutigen andere damit. Wenn Paul Würdig, der aus einer Branche kommt, in der die vermeintlich harten Jungs von der Straße den Ton angeben, sich ebenfalls dazu bekennt, dann ist das bemerkenswert und keine PR. Niemand hat das Recht, anderen das Leid abzusprechen, auch nicht Sido.
Man hätte Paul Würdig diese Erfahrung nicht gewünscht, sondern ein glücklicheres, erfüllteres Leben. Man hätte ihm gewünscht, dass er seinen Kindern ein besserer Vater ist als sein Vater ihm. Man hätte ihm gewünscht, dass er seiner Familie und seinen Freunden häufiger Rouladen gekocht hätte. Keine Vorspeise, keine Nachspeise. Nur Rouladen mit Kartoffeln und Rotkohl. Man hätte ihm gewünscht, dass er „Paul“nicht hätte schreiben müssen.
Sidos Mittelwerk ist für Freunde von Rap und Hip-Hop einigermaßen unerträglich gewesen. Popballaden mit Popkünstlern, die im massentauglichen Radio rauf und runter liefen, von Astronauten handelten, von Steinen. Er war älter geworden, kommerzieller. Auf „Paul“sind diese Popsirenen verschwunden. Der Klang ist dunkel, klar. Keine Luftschlangen mehr, keine Party, sondern Stuhlkreis. Hallo, ich bin Paul.
Den Hass und die Häme, die Sido auf früheren Alben gegen andere austeilte, richtet er nun gegen sich selbst. Er ist nicht mehr der Größte, der Schönste, der Beste. Er hebt nicht mehr ab, er liegt am Boden. „Als ich die neue Platte aufnahm, war mir alles egal. Ich wollte und musste niemandem mehr etwas beweisen“, sagte er dem „Spiegel“.
Rap ist manchmal ganz schön sinnentleert. Es geht dann darum, wer gegen wen gestänkert hat und warum wer besser ist, wer mehr Alben verkauft, größere Autos hat, schönere Frauen. Rap ist dann gut, wenn Künstler etwas zu sagen haben. Von Erfahrungen berichten, die nicht schön waren, sie aber irgendwann und hoffentlich starkmachen. „Paul“ist deswegen Sidos bisher größtes Album, es ist sein Meisterwerk.
Paul Würdig hat es einem als Sido nie besonders leicht gemacht, ihn zu mögen. Er irrlichterte herum, pöbelte, wirkte gierig und dreist. Zuletzt fiel er mal mit Hitler-Witzen auf oder durch das Verbreiten von Verschwörungsmythen, wofür er mehrfach um Entschuldigung gebeten hat. Ein Konzert von ihm zu besuchen, ist oftmals wie die Teilnahme an einer Lotterie: unvorhersehbar. Es kann sehr gut sein, aber auch sehr schlecht. Dann nämlich, wenn er keine Lust hat.
Wenn man „Paul“hört, rückt Sido näher. Er ist keine abstrakte Kunstfigur mehr, sondern ein Mensch. Er versinkt nicht im Selbstmitleid, sondern weiß, dass er Fehler gemacht hat. Er zeigt Gefühle und hat dafür Gefühle verdient. Fast kommt man so weit, dass man einen Arm um ihn legen wollte und sagen: Mensch Paul, das wird, Großer.
Gesundheitlich gehe es ihm wieder gut, sagt Paul Würdig. Vielleicht ist er nun auf einem richtigen Weg, einem besseren zumindest. Rein musikalisch jedenfalls ist er das.