Rheinische Post - Xanten and Moers
Kunst kennt keine Zeit
Berlin lockt wieder mit sehenswerten Ausstellungen. Ein Rundgang durch die Neue Nationalgalerie, den Hamburger Bahnhof und das Museum Barberini in Potsdam.
Monica Bonvicini darf das. Und sie kann es: Die italienische Kunst-Rebellin, die seit vielen Jahren in Berlin arbeitet und eine der wichtigsten Bildhauerin der Moderne ist, hat sich diesmal vorgenommen, die vielleicht bedeutendste Kunst-Architektur der Moderne neu zu definieren. Wer sich der von Mies van der Rohe aus Glas und Stahl gebauten Neuen Nationalgalerie nähert, ist überwältigt. Eine riesige Spiegelfassade ist gegen den ikonischen Bau gelehnt, ragt bis übers Dach hinaus und scheint den Eingang zu verstellen. „I do you“ist in schwarzen Lettern auf die verspiegelte Fläche geschrieben: „Ich mach dich“, gemeint als „Ich will dich“.
Kampfansage an eine männlich dominierte Domäne und Liebeserklärung an einen Ort, der transparent und elegant durch das Alltagsgrau zu fliegen scheint und dessen gläsernes Foyer ungemein schwer zu erobern und zu bespielen ist. Monica Bonvicini kennt keine Hemmungen, räumt sich den Weg frei. Die meisten ihrer überdimensionalen Arbeiten kann sie seit Jahren nicht zeigen, aber wenigstens herbeizitieren: In einer Wort-Collage erklingen um die 2000 Titel von Werken, die sie bisher geschaffen hat.
Sprache wird Kunst, Kunst wird Sprache. Aber auch Erschütterung und Provokation, Rätsel und Geheimnis.
In der verglasten Halle steht ein verspiegeltes Podest, in dem sich alles, Mensch und Kunst, Stadt und Museum, gegenseitig beäugt, reflektiert und überlagert. „Desire“steht in großen Buchstaben darauf: Doch Sehnsucht und Begehren sind ohne ihre Negation und Nicht-Erfüllen von Hoffnungen und Erwartungen nicht zu haben. Den auf den Boden gekippten Haufen Bauschutt hat Bonvicini bei der Sanierung der Alten Nationalgalerie abgezweigt. Jetzt liegen Reste der klassizistischen Fassade des Stüler-Baus als Flaschenpost aus der Vergangenheit in der Mies-Moderne herum. Kunst kennt keine Zeit.
Apropos Zeit: Die sollte mitbringen, wer sich auf der Suche nach den aktuellen Tendenzen zeitgenössischer Kunst in den Hamburger Bahnhof wagt. Doch bevor man die in den Seitenflügeln auftrumpfenden Ausstellungen mit Neuerwerbungen („Under Construction“) und Sound-Arbeiten („Broken Music“) in Augenschein nimmt, lohnt ein langes Verweilen im riesigen Eingangsbereich: Wo früher die Dampfloks in dem mit Glaskuppel und Stahlstreben verzierten Kopfbahnhof ankamen und abfuhren, hat Sandra Mujinga einen großen schwarzen Kasten gestellt. Zu rätselhaften Klängen scheint sich im Inneren des düsteren Monstrums etwas zu bewegen, zu atmen, zu leben. Manchmal flimmern Farben über die Oberfläche, versinken wieder ins Dunkle.
Manchmal glaubt man, rissige Haut zu erkennen, Körperteile, die ihr Geheimnis nicht preisgeben wollen. „IBMSWR: I Build My Skin with Rocks“nennt die Künstlerin ihre visuell-akustische Skulptur, die auf wundersame Weise Außenwelt und Innenleben miteinander verbindet.
Ins Unbekannte und Offene kann man auch im Martin-Gropius-Bau reisen. Im frei zugänglichen Lichthof des Kunst-Baus zeigt Wu Tsang seine großformatige Installation
„Of Whales“: eine Symbiose aus bizarren Wasserwelten und surrealen Klängen. Auf einer riesigen Leinwand schwappen Wellen, tauchen Meerestiere auf und wieder ab, Quallen schweben durch unergründliche Tiefen, Wale ziehen ihre Bahnen. Aus Lautsprechern ertönen rätselhafte, mit orchestraler Musik unterlegte Laute. Wahrnehmung und Wirklichkeit lösen sich auf, Imagination und Meditation fließen ineinander. Wer es sich auf den Liegen bequem macht, dem Meeresrauschen und den Walen zuhört und auf den Wellen surft, weiß irgendwann nicht mehr, ob er noch Mensch ist oder schon ein Wesen des Meeres.
Verwischte Grenzen und aufgelöste Gewissheiten findet auch, wer noch nicht kunstsatt ist und den Weg von Berlins Mitte nach Potsdam einschlägt. Im Museum Barberini wird der Surrealismus aus einer neuen Perspektive gesehen, erforscht und gedeutet. Es geht um Psychoanalyse und Traumdeutung, Zauberei und Okkultismus: „Surrealismus und Magie: Verzauberte Moderne“präsentiert mehr als 90 Werke von Leonore Carrington und Max Ernst, Salvador Dalí und René Magritte, Leonor Fini, Yves Tanguy, Dorothea Tanning und weiteren ikonischen Künstlern des Surrealen, lässt erahnen, wie tief sie eintauchten in okkulte Riten und magische Mythen. Alchemie wird zu Kunst. Öffnet Augen, Ohren und Sinne. Was will man mehr?