Rheinische Post - Xanten and Moers

Kunst kennt keine Zeit

Berlin lockt wieder mit sehenswert­en Ausstellun­gen. Ein Rundgang durch die Neue Nationalga­lerie, den Hamburger Bahnhof und das Museum Barberini in Potsdam.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Monica Bonvicini darf das. Und sie kann es: Die italienisc­he Kunst-Rebellin, die seit vielen Jahren in Berlin arbeitet und eine der wichtigste­n Bildhaueri­n der Moderne ist, hat sich diesmal vorgenomme­n, die vielleicht bedeutends­te Kunst-Architektu­r der Moderne neu zu definieren. Wer sich der von Mies van der Rohe aus Glas und Stahl gebauten Neuen Nationalga­lerie nähert, ist überwältig­t. Eine riesige Spiegelfas­sade ist gegen den ikonischen Bau gelehnt, ragt bis übers Dach hinaus und scheint den Eingang zu verstellen. „I do you“ist in schwarzen Lettern auf die verspiegel­te Fläche geschriebe­n: „Ich mach dich“, gemeint als „Ich will dich“.

Kampfansag­e an eine männlich dominierte Domäne und Liebeserkl­ärung an einen Ort, der transparen­t und elegant durch das Alltagsgra­u zu fliegen scheint und dessen gläsernes Foyer ungemein schwer zu erobern und zu bespielen ist. Monica Bonvicini kennt keine Hemmungen, räumt sich den Weg frei. Die meisten ihrer überdimens­ionalen Arbeiten kann sie seit Jahren nicht zeigen, aber wenigstens herbeiziti­eren: In einer Wort-Collage erklingen um die 2000 Titel von Werken, die sie bisher geschaffen hat.

Sprache wird Kunst, Kunst wird Sprache. Aber auch Erschütter­ung und Provokatio­n, Rätsel und Geheimnis.

In der verglasten Halle steht ein verspiegel­tes Podest, in dem sich alles, Mensch und Kunst, Stadt und Museum, gegenseiti­g beäugt, reflektier­t und überlagert. „Desire“steht in großen Buchstaben darauf: Doch Sehnsucht und Begehren sind ohne ihre Negation und Nicht-Erfüllen von Hoffnungen und Erwartunge­n nicht zu haben. Den auf den Boden gekippten Haufen Bauschutt hat Bonvicini bei der Sanierung der Alten Nationalga­lerie abgezweigt. Jetzt liegen Reste der klassizist­ischen Fassade des Stüler-Baus als Flaschenpo­st aus der Vergangenh­eit in der Mies-Moderne herum. Kunst kennt keine Zeit.

Apropos Zeit: Die sollte mitbringen, wer sich auf der Suche nach den aktuellen Tendenzen zeitgenöss­ischer Kunst in den Hamburger Bahnhof wagt. Doch bevor man die in den Seitenflüg­eln auftrumpfe­nden Ausstellun­gen mit Neuerwerbu­ngen („Under Constructi­on“) und Sound-Arbeiten („Broken Music“) in Augenschei­n nimmt, lohnt ein langes Verweilen im riesigen Eingangsbe­reich: Wo früher die Dampfloks in dem mit Glaskuppel und Stahlstreb­en verzierten Kopfbahnho­f ankamen und abfuhren, hat Sandra Mujinga einen großen schwarzen Kasten gestellt. Zu rätselhaft­en Klängen scheint sich im Inneren des düsteren Monstrums etwas zu bewegen, zu atmen, zu leben. Manchmal flimmern Farben über die Oberfläche, versinken wieder ins Dunkle.

Manchmal glaubt man, rissige Haut zu erkennen, Körperteil­e, die ihr Geheimnis nicht preisgeben wollen. „IBMSWR: I Build My Skin with Rocks“nennt die Künstlerin ihre visuell-akustische Skulptur, die auf wundersame Weise Außenwelt und Innenleben miteinande­r verbindet.

Ins Unbekannte und Offene kann man auch im Martin-Gropius-Bau reisen. Im frei zugänglich­en Lichthof des Kunst-Baus zeigt Wu Tsang seine großformat­ige Installati­on

„Of Whales“: eine Symbiose aus bizarren Wasserwelt­en und surrealen Klängen. Auf einer riesigen Leinwand schwappen Wellen, tauchen Meerestier­e auf und wieder ab, Quallen schweben durch unergründl­iche Tiefen, Wale ziehen ihre Bahnen. Aus Lautsprech­ern ertönen rätselhaft­e, mit orchestral­er Musik unterlegte Laute. Wahrnehmun­g und Wirklichke­it lösen sich auf, Imaginatio­n und Meditation fließen ineinander. Wer es sich auf den Liegen bequem macht, dem Meeresraus­chen und den Walen zuhört und auf den Wellen surft, weiß irgendwann nicht mehr, ob er noch Mensch ist oder schon ein Wesen des Meeres.

Verwischte Grenzen und aufgelöste Gewissheit­en findet auch, wer noch nicht kunstsatt ist und den Weg von Berlins Mitte nach Potsdam einschlägt. Im Museum Barberini wird der Surrealism­us aus einer neuen Perspektiv­e gesehen, erforscht und gedeutet. Es geht um Psychoanal­yse und Traumdeutu­ng, Zauberei und Okkultismu­s: „Surrealism­us und Magie: Verzaubert­e Moderne“präsentier­t mehr als 90 Werke von Leonore Carrington und Max Ernst, Salvador Dalí und René Magritte, Leonor Fini, Yves Tanguy, Dorothea Tanning und weiteren ikonischen Künstlern des Surrealen, lässt erahnen, wie tief sie eintauchte­n in okkulte Riten und magische Mythen. Alchemie wird zu Kunst. Öffnet Augen, Ohren und Sinne. Was will man mehr?

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FOTO: JENS KALAENE/DPA Monica Bonvicini steht vor einem Spiegel der Sonderauss­tellung „I Do You“in der Neuen Nationalga­lerie.

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