Rheinische Post - Xanten and Moers
Endlich Frost!
Die Welt scheint wie erstarrt. Warum das gerade ein wohltuender Anblick ist.
Für den Füllstand der Gasspeicher im Land und die Heizkosten jedes Einzelnen waren die bisher milden Temperaturen dieses Winters nützlich. Doch nun Frost. Die Natur erstarrt. Weißer Dunst umhüllt jeden Halm und signalisiert dem Betrachter, dass gerade Stillstand ist. Alles unter Zucker.
Diesem Signal begegnet man nicht mehr so oft. Alles scheint ja im Fluss in der Gegenwart, scheint immer unter Druck, immer in Bewegung. „Stillstand ist der Tod“, dichtete Herbert Grönemeyer in seinem Lied „Bleibt alles anders“frei nach Theoretikern, die schon zu Beginn der Industrialisierung das beschleunigte Vorwärtsdrängen dem Wesen des Kapitalismus zuschrieben. Stillstand gilt in der Moderne als Gegenteil von Fortschritt, als Bankrotterklärung.
Die Natur tickt anders. Und macht uns das gerade vor.
Darum ist eine gefrorene Landschaft nicht nur pittoresk. Sie gibt zu denken. Denn sie stellt aus, dass Leben in Zyklen verläuft und Momente kennt, in denen sich mal nichts bewegt. Endpunkte. Anfangspunkte, wie man es sehen mag. Aussetzer jedenfalls, an denen Ruhe eintritt. Sammlung. Alles auf Anfang. Nun muss man kein Feind des Fortschritts, kein Verweigerer moderner Dynamik sein, um das Anhalten ab und zu, um ein wenig temporäre Erstarrung als wohltuend zu empfinden. Man ist heute eben eher gefordert, sich diese Aussetzer selbst zu verordnen. Selbst darauf zu achten, wann man sie nötig hat, damit einen nicht alles überrollt.
Dass das ein Problem ist, belegen Statistiken.
Nach einer kurzen Erholungsphase 2020 nahmen die Burnout-Fälle in Deutschland laut Zählung der Krankenkassen wieder zu. Depressionen sind psychische Störungen und lassen sich nicht allein auf Überforderung zurückführen. Aber auch die traurige Antriebslosigkeit macht immer mehr Menschen krank. Und es erscheint zumindest nicht abwegig, dass das auch mit ungewollter Atemlosigkeit im Alltag zu tun haben könnte.
Frost lässt sterben. Wer die Wärme liebt, schaudert in dieser Jahreszeit. Doch unter der Zuckerschicht tut sich was. Da sammelt sich schon Kraft.
Unsere Autorin ist Redakteurin des Ressorts Politik/Meinung. Sie wechselt sich hier mit unserem stellvertretenden Chefredakteur Horst Thoren ab.