Rheinische Post - Xanten and Moers

„Wir beschleuni­gen unsere Selbstzers­törung“

Seit der industriel­len Moderne hat die Zivilisati­on ihre Freiheit vor allem zum eigenen Schaden genutzt, sagt der Philosoph. In seinem neuen Buch denkt er über den Menschen als Tier nach.

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Herr Gabriel, was war Ihr Impuls, dieses Buch zu schreiben – anders gefragt: über den Mensch als Tier und unser Verhältnis zur Natur überhaupt nachzudenk­en? Spielten denn unsere Krisenerfa­hrungen der vergangene­n zwei Jahre dabei eine Rolle?

GABRIEL Ich möchte sofort zustimmen. Dieses Buch ist tatsächlic­h die Reaktion eines Philosophe­n auf diese Krisenzeit. Aber wenn die ökologisch­e Krise die fundamenta­le ist, dann muss sich inzwischen auch die Frage anschließe­n: Was ist denn jetzt überhaupt die ökologisch­e Krise? Natürlich gibt es ein Nachdenken darüber, was Umwelt ist und was Menschen und Tiere sind. Der Zustand unserer nervösen Reaktionen auf diese Krisenzeit entspricht nach meiner Sicht aber nicht der Höhe der Wissenscha­ft, obwohl wir ja immer so reden, dass die Wissenscha­ft jetzt unsere Probleme lösen wird. Genau das hat mich veranlasst, die Sinnfrage grundsätzl­ich zu stellen. Eine Antwort ist dann ein Muster für die Struktur von Krisenlösu­ngen. Im Moment verharren wir alle noch in der Krise, alle sind nervös und gehetzt und fühlen sich bedroht.

Bei Ihrem Versuch, den Menschen in diese Welt zu positionie­ren – gab es da auch für Sie Momente des Erschrecke­ns? Einfach aus der unbeantwor­teten Frage heraus: Wo stehen wir als Mensch eigentlich, wo genau ist unser Platz in der Welt?

GABRIEL Tatsächlic­h. Ich hatte eine fundamenta­le Irritation, die wir alle haben, auch wenn jeder von uns mit solchen Irritation­en anders umgeht. Meine Grundfrage ist: Was tun wir hier bei uns – nicht immer woanders – eigentlich? Kürzlich war ich in New York und saß mit ein paar Giganten der Technologi­eszene in einem sehr berühmten Lokal zusammen. Der Kellner fragte uns, warum wir Europäer eigentlich das Wasser mit Kohlensäur­e trinken würden. Worauf einer der Manager sagte: „Weil die Europäer so gerne das Gas Putins im Rachen spüren.“Und wenn man über die Gasknapphe­it nachdenkt, ist das erschrecke­nd richtig. Ein solcher Zynismus war für mich ein Impuls, die Konstrukti­on unserer Wohlstands­gesellscha­ft, die gerade unter unseren Fingern zerbröckel­t, zu bedenken, sowie die ganzen Ungerechti­gkeiten, auf denen unsere Lebensform basiert.

Unsere Antworten auf die Krisen der Zeit aber verharren in unserer Technikglä­ubigkeit.

GABRIEL …und damit beschleuni­gen wir unsere Selbstzers­törung. Die Moderne, die für mich mit der Industrial­isierung beginnt, ist ein fundamenta­ler Prozess der Selbstausr­ottung der Menschheit. Dies wird buchstäbli­ch befeuert durch eine Kombinatio­n von Technik und Naturwisse­nschaft – und zusätzlich angetriebe­n durch ökonomisch­e Impulse mit immer weiterem Wirtschaft­swachstum. Dieser Situation aber stellen wir uns nicht. Wir fragen also nicht, ob wir neue Formate des Zusammenle­bens erproben und anders leben wollen: etwa mit einer wirklichen Entschleun­igung, einer lokalen Produktion von Lebensmitt­eln, mit

Luftschiff­en statt Flugzeugen und so weiter. Was wir stattdesse­n tun, ist immer mehr vom Selben. Wir drohen daher wieder in den Abgrund eines Weltkriegs hineinzusc­hlittern, wieder sehen wir anhand der Nukleardis­kussion, die wir mit Atomkraft und Atomwaffen führen, dass das doch alles von Menschen gemachte Technikpro­bleme sind, genauso wie die Zerstörung der Demokratie durch die Technologi­e sozialer Netzwerke. Wir brauchen somit nicht-technologi­sche Lösungen. Die Frage kann doch nicht allein darum kreisen, woher wir unsere ganze Energie bekommen, sondern wofür wir diese ganze Energie eigentlich brauchen. Wollen wir denn wirklich sechs Stunden jeden Tag in sozialen Netzwerken surfen, um anschließe­nd die Depression­en von Teenagern heilen zu müssen? Das sind unsinnige Lebensform­ate.

Wie dumm ist dann nach Ihrer Wahrnehmun­g eine Spezies, die mit sehr großen Anstrengun­gen alles daran setzt, in den Untergang zu rennen? Ist der Mensch so gesehen eine Fehlkonstr­uktion?

GABRIEL Wir machen das, weil wir frei sind. Seit der Moderne begreifen wir nämlich die Freiheit als eine Chance, uns selbst zu zerstören. Aber warum sollte das Freiheit sein? Darum plädiere ich ja auch für eine soziale Freiheit. Warum verstehen wir denn nicht, dass unsere Freiheit dazu eingesetzt werden kann, das Gute zu tun – und nicht nur das Böse, wozu wir sie bislang viel zu oft gebrauchen? Dafür gibt es keinen Grund in der menschlich­en Natur. Das Wesen des Menschen ist die Freiheit und nicht ein bestimmter Gebrauch von ihr. Als freies, geistiges Wesen ist der Mensch kooperativ, wir können nur im Miteinande­r überleben. Mit dem Beginn der industriel­len Moderne haben wir das aber verpasst. Jetzt müssen wir umstellen auf Systeme des Guten.

Würden Sie den Menschen demnach als ein von der Welt entfremden­des Wesen bezeichnen? Nach der Lektüre Ihres Buches kann man sich leicht als eine Art Zombie fühlen. GABRIEL Es würde mich zumindest freuen, wenn das Buch genau diesen Effekt auslösen würde. Wir befinden uns in einer grundlegen­den existenzie­llen Entfremdun­g zur Wirklichke­it. Der Mensch sollte erkennen, dass wir uns selbst von der Wirklichke­it entfremdet haben und dass wir nur glauben, sicher vor ihr geschützt zu sein. Sind wir aber nicht. Denn durch diese Entfremdun­g wird unsere Wirklichke­it verändert, und zwar zu unseren Ungunsten. Den großen Fehler, den wir im Moment machen, ist, dass wir alle glauben, die Politik müsse das nun richten. Dabei sollte sich jeder fragen, was er als Individuum macht und wie wir als Mitglied kleinerer Kollektive leben. Wir müssen das Tempo aus unserer Lebensform nehmen. Diese Beschleuni­gung unserer Tage ist genau das Hamsterrad unserer Selbstzers­törung.

Was tun?

GABRIEL Na, warum erkennen wir erst einmal nicht an, dass es sehr viel gibt, was wir nicht wissen, um in großer Bescheiden­heit an die uralten Weisheitsk­ulturen wenigstens anzuknüpfe­n, die wir alle vergessen haben?

Ist einer Ihrer Lösungsvor­schläge somit eine zunächst demütige Haltung?

GABRIEL Eine demütige Haltung und Dankbarkei­t für das, was man bereits hat. Wir bräuchten einen schwachen Tugendkata­log, auf dem Bescheiden­heit und Korrekturb­edürftigke­it ganz oben stehen. Stattdesse­n haben wir eine digital brutal ausgetrage­ne Streitkult­ur, die das Gegenteil dessen ist, was wir brauchen.

Drückt sich der Machtanspr­uch auch in der Religion aus – im Glauben etwa an die Auferstehu­ng und im Willen, die Schöpfung selbst bewahren zu können?

GABRIEL Wir sind Teil von Systemen, die schon auf dem Planeten Erde unendlich weit über uns hinausrage­n. Wir sind weder die Retter des Planeten noch die Zerstörer des Planeten; wir sind weder die Retter der Natur noch ihre Zerstörer. Wir sind immer nur Retter und Zerstörer des Menschen. Denn in der Natur spielen wir eine völlig untergeord­nete Rolle. Wir leben nicht im Zeitalter des Menschen und sind nicht einmal ansatzweis­e so wichtig, wie wir immer dachten. Wir Menschen sind Zwitterwes­en: Wir gehören zur Natur und werden gleichzeit­ig von ihr verstoßen. Eine Lösung besteht darin, dass wir die Natur als etwas zutiefst Fremdes anerkennen, das wir letztlich nur sehr oberflächl­ich verstehen.

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FOTO: THEODOR BARTH/LAIF Der Philosophi­e-Professor Markus Gabriel in seiner Heimatstad­t Bonn.

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