Rheinische Post - Xanten and Moers
Der Drang zum Aktivismus
Klimaschutz tut not. Das treibt immer mehr Menschen dazu, spektakuläre Aktionen wie in Lützerath zu planen. Dahinter steckt ebenso subjektiver Zeitgeist wie objektiver Zeitdruck. Und es hat Folgen für die Demokratie.
Die Zeit drängt. Die Folgen des Klimawandels werden für Teile der Erde apokalyptisch sein. Und wie reagiert die Politik? Sie versammelt sich zu Gipfeln, entwickelt Fahrpläne, setzt sich Ziele – lieber nicht so zeitnah – und ringt mit den Folgen eines Kriegs, der ausgerechnet das ausbremst, was als Erstes geschehen müsste: die Energiewende. Das schürt Unzufriedenheit bei Menschen, die sich für eine entschlossenere Politik engagieren und aus guten Gründen finden, dass Europa, dass Deutschland mit seinem verschwenderischen Lebensstil nun vorangehen müsse beim Klimaschutz.
Die Vorwürfe sind bekannt; neu ist, dass immer mehr Menschen glauben, sie müssten aktiv gegen das angehen, was sie als Versäumnisse sehen. Und so werden aus engagierten Bürgern Aktivisten, also Menschen, die auf demokratische Prozesse nicht mehr warten wollen und glauben, dass sie ihre Ziele mit öffentlichkeitswirksamen Taten erreichen. In der Regel sind die symbolisch. Es geht Aktivisten eben nicht um den konkreten politischen Prozess, der in Demokratien immer mit Mehrheitsbeschaffung zu tun hat und erst durch den Weichspüler des Interessensausgleichs muss. Aktivisten setzen Zeichen, schaffen Aufmerksamkeit, hoffen auf Beschleunigung oder gar das Erzwingen politischer Entscheidungen.
Die Zeit spielt bei dieser Radikalisierung also eine zentrale Rolle. Das Moment des Nicht-mehr-warten-Könnens trifft auf die langsamen Prozesse der Demokratie, das Schritttempo der Kompromisse. Wer aber glaubt, sein Anliegen dulde keinen Aufschub, wird nahezu zwangsläufig in das Lager jener wechseln, die es für ihren Auftrag halten, die Politik vor sich herzutreiben.
Zudem treibt das Apokalyptische der Klimaszenarien auch Menschen aus der bürgerlichen Mitte in den Aktivismus. Es geht ja um alles: Wälder, Wasser, extreme Wetter, Nahrung, Fluchtbewegungen, Überleben auf einem brennenden Planeten. Unser aller Leben. Es steht viel auf dem Spiel, doch geht es eben auch um das Überleben der Demokratie, wenn immer mehr Menschen den gemäßigten Prozessen den Rücken kehren, einem Thema die absolute Priorität einräumen und das nicht mehr diskutieren wollen. So und nicht anders, weil die Sache es verlangt.
Derweil verlieren Parteien Mitglieder. Der Nachwuchs fehlt. Treffen im Ortsverein, das gilt als piefig. Aktivist zu sein, ist dagegen jung, couragiert, hip – unabhängig vom Alter. Es verschafft Aufmerksamkeit in den digitalen Netzwerken und ist Teil einer jungen Kultur, in der auch alte linke Versatzstücke wieder auftauchen. „Hoch! die! internationale! Solidarität!“wird wieder skandiert. Die Systemfragen sind zurück, weil die Erderwärmung mit Lebensstil und Verschwendung zu tun hat, mit zerstörerischen Folgen eines Wirtschaftsstils, bei dem Zerstörung einen zu geringen Preis hat.
Auch bei Themen wie Tierschutz, Abtreibung und Rassismus machen Aktivisten durch bewusste Grenzüberschreitungen auf sich aufmerksam, signalisieren Dringlichkeit auch durch zivilen Ungehorsam. Auch das gehört zur Demokratie: Aktivismus macht sichtbar, wo der politische Apparat fahrlässig lahmt, wo sich Entscheidungen von dem entfernen, was viele Bürger für entscheidend halten. Lützerath hat gezeigt, dass das Thema Kohle mobilisiert und es eben nicht nur um ein paar Radikale im Baumhaus geht.
Aber genau an diesem Punkt wirken auch Fliehkräfte. Aktivismus ist eine dynamische Energie, die Dinge anstoßen kann, aber schwer zu beherrschen ist.
Bürger haben in Demokratien diverse Möglichkeiten, sich jenseits des Parlaments einzubringen.
Demonstrationen In Deutschland dürfen Bürger ihre Meinung auch öffentlich und in Gemeinschaft äußern. Das Demonstrationsrecht ist als Grundrecht geschützt und in Artikel 8 des Grundgesetzes verankert.
Aktivisten Politische Aktivisten entscheiden sich bewusst gegen Teilhabe an politischen Prozessen etwa durch Ämter. Sie nutzen Demonstrationen, Online-Petitionen, Kampagnen und spektakuläre Aktionen in der Öffentlichkeit, um ihre Ziele voranzutreiben. Zum Teil nutzen sie auch zivilen Ungehorsam, manche schließen auch Gewalt nicht aus.
Bürgerinitiativen Bürger können auch außerhalb des formellen Politikbetriebs über Initiativen Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen. Bürgerinitiativen sind Interessenvereinigungen zu konkreten politischen, sozialen oder ökologischen Themen. Sie können der Selbsthilfe dienen und Einfluss auf die öffentliche Meinung oder Parteien nehmen und so politische Ziele verfolgen.
Karl Popper definiert Aktivismus als „die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens“. Dinge hinzunehmen, empfinden manche schon als Kränkung. Dabei ist es die Voraussetzung für Zusammenleben. Und manchmal auch ein Schutz davor, zu schnell zu weit zu gehen. Schon der Soziologe Max Weber hat vor dem Rausch des Revolutionären, vor der „ins Leere verlaufenden ‚Romantik des intellektuell Interessanten‘ ohne alles sachliche Verantwortungsgefühl“gewarnt. Aber nüchterne Distanz widerspricht dem aktivistischen Drang. Und womöglich dem Selbstbild von Aktivisten, die ihre Sicht für das Maß aller Dinge halten. Sonst brächten sie nicht die Kraft auf, sich in Tunnel einzugraben, sich in den Verkehr zu kleben.
Dafür nehmen Aktivisten auch in Kauf, dass sich Inhalte verschieben. Denn die Aktion selbst tritt oft in den Vordergrund. Dann wird nach den Protesten in Lützerath über zwei Männer im Tunnel, die tanzende Greta Thunberg, Polizeigewalt gesprochen. Und nicht über das 1,5-Grad-Ziel oder den Emissionshandel. Aktivismus macht aus globalen Themen auch lokale Ereignisse, weil sie greifbarer werden und betroffener machen. So funktioniert Kampagnen-Kommunikation. Doch oft genug bleibt es dabei. Gerade wenn der Krawall zu laut ist. Dann wird nicht mehr am kleinen Beispiel über das Große geredet, sondern nur noch über das Beispiel. Und das ist dann schnell abgeräumt von denen, die es eh nicht wissen wollen: Lützerath? Was bringt das noch? Das bisschen Kohle? Oder die Abwehr konzentriert sich auf die Aktivisten selbst, die wahlweise als Chaoten, Terroristen oder verwöhnte Mittelstandskinder beschimpft und abgetan werden.
Aktivist zu werden, ist vielleicht die direkteste Art, in einer zerklüfteten Welt voller Ohnmachtsgefühle Selbstwirksamkeit zu erleben. Doch für konkrete Veränderung braucht es am Ende doch die Mühlen der politischen Prozesse. Das ist das Tempo der Demokratie.
Lützerath hat gezeigt, dass es eben nicht nur um ein paar Radikale im Baumhaus geht