Rheinische Post - Xanten and Moers
Zwischen Luftschutzkeller und Wärmestube
Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze kündigt bei ihrem Besuch im Kriegsgebiet in Odessa 52 Millionen Euro neue Hilfen für die Ukraine an.
ODESSA Um 8.56 Uhr ist Svenja Schulze drin. Drin im Kriegsgebiet. Die Fahrzeugkolonne mit der Bundesentwicklungsministerin hat die Grenze überquert. Schnell noch die Autos gewechselt, rein in geschützte Fahrzeuge. Hinter Schulze liegt jetzt die Republik Moldau, wo sie übernachtet hat, vor ihr die Ukraine, ein Land im Krieg. Und ein Tag mit womöglich ungewisser Entwicklung. In einem Land, das sich seit fast elf Monaten im Ausnahmezustand befindet, kann viel passieren. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde. Die Gefahr kommt meist lautlos – oder wenn, dann nur mit sehr kurzer Vorwarnzeit. Aber so weit will Schulze bei ihrem zweiten Besuch in der Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskrieges nicht denken. Sie will Hilfe bringen, keine neuen Katastrophen. Und sie denkt schon an die Zeit nach dem Krieg, an den Wiederaufbau zerstörter Städte, Gemeinden und Dörfer. Später am Tag wird die SPD-Politikerin sagen:
„Der Wiederaufbau findet hier jeden Tag statt.“Und Deutschland werde dies unterstützen, jetzt im Krieg und natürlich danach.
20 Kilometer nach Grenzübertritt steht Schulze in der Gemeinde Starokozache, 10.000 Einwohner – plus aktuell 500 Binnenvertriebene. Die Straßen verschlammt, die Schlaglöcher knietief, die Menschen bewegt. Hier hilft, wer helfen kann, weil die Not zusammenschweißt. Bürgermeister Wadim Bojko sagt: „Deutschland unterstützt uns ohne aufgesetztes Pathos, wirklich sehr bewegend. Danke.“Die Aula der örtlichen Schule ist jetzt eine Wärmestube. Die Ukrainer nennen solche Orte „Punkte der Unbeugsamkeit“. Schulze ist vom Widerstandswillen der Ukrainer beeindruckt. Draußen vor der Schule steht ein Stromgenerator aus Deutschland, finanziert aus dem Etat von Schulzes Ministerium.
Dann ist Luftalarm. Wieder einmal. 10.14 Uhr. Russische Flugzeuge sind am Himmel über Belarus. Beladen, wie es heißt. Also mit Bomben an Bord. Die Kinder von Starokozache gehen in den (Luftschutz-)Keller der Schule. Dort geht der Unterricht weiter. Um 11.49 Uhr melden die Sirenen Entwarnung.
Schulze wird an diesem Tag verkünden, dass sie 52 Millionen Euro aus ihrem Etat mitgebracht hat. Nicht in bar, natürlich nicht, aber als Finanzzusagen: für Generatoren, Feldbetten, Wärmestuben, medizinische Versorgung, für moderne kommunale Verwaltung. Schulze fährt weiter. Ziel: der Hafen von Tschornomorsk, nahe Odessa. Die Presseoffizierin sagt, das hier sei kritische Infrastruktur. Eigentlich verbotene Zone. Die Journalisten aus dem Ausland sollen wissen, dass ihr Zutritt auf das Hafengelände „absolute Ausnahme“sei, nur erlaubt aus „Respekt vor der Unterstützung aus Deutschland für unser Land“.
Von hier schickt die Ukraine Weizen in die Welt – nach Afghanistan, nach Äthiopien. Sie könnten drei Mal mehr liefern, doch Russland schaffe „künstliche Probleme“, so Vizepremier Oleksandr Kubrakow. Die Schiffe würden nach einer Verabredung zwischen der Ukraine, Russland, der Türkei und den Vereinten Nationen kontrolliert, erzählt Jurij Waskow, Vize-Minister für Infrastruktur. Die Ukraine schaffe 40 Inspektionen am Tag, die Vereinten Nationen machten 40 Inspektionen, die Türkei ebenfalls 40 Inspektionen – und Russland? Zwei bis drei Inspektionen täglich. Auch das Welternährungsprogramm beklagt, dass Russland Schiffskontrollen künstlich verzögere und einen Stau von aktuell 80 Frachtern im Bosporus verursache. Schulze sagt: „Putin nutzt Hunger als Waffe und nimmt den globalen Süden in Geiselhaft.“
An Station drei ihrer Ukraine-Reise steht die Ministerin im Umspannwerk des ukrainischen Netzbetreibers Ukrenergo. Zweimal schon zerstörten russische Raketen das Umspannwerk. Am 18. November, am 19. Dezember und nun ist der 20. Januar. Vorsicht, alle Handys aus. Niemand soll hier geortet werden. Nun bauen die Ukrainer ihre Station zur Stromerzeugung wieder auf. In mehreren Schritten, aber es geht voran, wenn nicht die nächste russische Rakete einschlägt. Schulze lobt Widerstandsgeist und Durchhaltewillen
der Ukrainer: „Die Menschen hier geben nicht auf, sondern reparieren unermüdlich die Schäden des Krieges.“
Odessa, ukrainische Perle am Schwarzen Meer, haben russische Truppen auf dem Landweg noch nicht erreicht, aber doch schon getroffen. Vize-Premierminister Kubrakow denkt über sein zerstörtes Land nach. Binnen zwei Jahren sei die Infrastruktur, die nicht kompliziert sei, wiederaufgebaut, macht der Minister für den Wiederaufbau den Menschen in seinem Land Mut.
Eine Station später steht Svenja Schulze beim Besuch einer Nachbarschaftsinitiative in einem Innenhof des Stadtteils Moldawanka. Die Frauen erzählen ihr von Freundschaft, Nachbarschaft und davon, dass sie nun auch der Krieg verbinde. Zum Schluss stimmt eine Frau mit Gitarre ein Lied für den Gast aus Deutschland an. Es geht um den Sohn, der weggegangen und zu Hause immer willkommen sei. In der Ukraine sind seit elf Monaten viele Söhne weggegangen. Und nicht wiedergekommen.