Rheinische Post - Xanten and Moers
Wenn Richter sich irren
Die beiden Strafverteidiger Burkhard Benecken und Hans Reinhardt aus Marl arbeiten in ihrem neuen Buch Fehlurteile auf. Die haben oft weitreichende Folgen und zeigen: Manchmal sind vor dem Gesetz doch nicht alle gleich.
Der Fall Jens Söring machte in den vergangenen Jahren immer wieder Schlagzeilen: Der deutsche Diplomatensohn soll im März 1985 die Eltern seiner damaligen Freundin in den USA ermordet haben. Wegen Doppelmordes wurde er zu zwei lebenslangen Haftstrafen verurteilt, bestreitet die Taten aber bis heute. Vor vier Jahren kam Söring auf Bewährung frei, nachdem er 33 Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Die Strafverteidiger Burkhard Benecken und Hans Reinhardt fächern den Fall in ihrem neuen Buch „Unschuldig verurteilt“auf. Sie haben den inzwischen 56-Jährigen in Deutschland anwaltlich beraten. Es geht unter anderem um verpasste Fristen und wichtige, entlastende Beweismittel, die im Prozess keine Berücksichtigung mehr fanden. Die Strafverteidiger aus Marl sind davon überzeugt:
Nimmt man den rechtsstaatlichen Grundsatz
„Im Zweifel für den Angeklagten“ernst, hätte Söring niemals verurteilt werden dürfen.
Fehlurteile gibt es auch in Deutschland – und die Autoren wollen über den „Albtraum Justizirrtum“aufklären, wie es im Untertitel ihres Buches heißt. „Egal ob bei einem Geschworenengericht in den USA, einem Schöffengericht in Recklinghausen oder einem Kammergericht in Berlin – Fehler, Irrtümer und Nachlässigkeiten sind menschlich“, heißt es dort: „Richter, Staatsanwälte, Gutachter und Verteidiger sind keine programmierbaren Rechtsautomaten mit der Garantie für stets umsichtige, faire und gerechte Entscheidungen.“Benecken sagt: „Das Problem ist viel größer als die Allgemeinheit vermutet. Wir glauben auch, dass es eine unglaublich hohe Dunkelziffer von Fehlurteilen in Deutschland gibt.“
In elf Kapiteln zeigen die Autoren, wodurch die deutsche Strafjustiz fehleranfällig werden kann. Es geht um Pflichtverteidiger, die nicht im Sinne des Mandanten handeln, um
Staatsanwälte, die sich verrennen – wie im Fall des Wettermoderators Jörg Kachelmann, der zu Unrecht wegen Vergewaltigung angeklagt wurde. Die geschilderten Fälle zeigen: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich und der Rechtsstaat bricht das Versprechen, dass es so ist, immer wieder.
„Wir haben eine Zwei-KlassenGesellschaft“, sagt Benecken. „Angeklagte
mit qualifizierten Verteidigern, die sich für sie einsetzen, schneiden vor Gericht besser ab als Angeklagte, die ohne Verteidiger erscheinen oder einen Pflichtverteidiger haben, der nicht alle Möglichkeiten ausschöpft.“Hans Reinhardt sagt, dass vor allem Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, arbeitslos und womöglich vorbestraft sind, vor Gericht mit geringeren Chancen ausgestattet sind. Er verweist auf die Schätzung von Ralf Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof, wonach jedes vierte Strafurteil ein Fehlurteil ist: „Das würde bedeuten, dass täglich etwa 650 Menschen in Deutschland zu
Unrecht verurteilt werden“, sagt Reinhardt.
Im Buch wird zum Beispiel der Fall der Supermarkt-Angestellten Annelie aus dem Ruhrgebiet behandelt, die von ihrer Kollegin beschuldigt wird, die Tageseinnahmen unterschlagen zu haben. Der Chef kündigt der Frau, die erst kurze Zeit im Betrieb war. Annelie hatte bei der Polizei ausgesagt, die Tasche mit den Einnahmen zuletzt in der Hand gehabt und in den Tresor geworfen zu haben – das funktionierte über eine Klappe. Sie besteht darauf, das Geld nicht mitgenommen zu haben. Per Strafbefehl wird sie wegen Unterschlagung zu einer vierstelligen Geldstrafe verurteilt.
Monate später meldet sich eine Auszubildende der Filiale bei Annelie und schreibt ihr, das Geld
sei nach ihrer Verurteilung wieder aufgetaucht, die Tasche hatte sich wohl in der Klappe verhakt, aber keiner habe das zum Anlass genommen, aufzuklären, dass Annelie zu Unrecht bestraft worden war. Sie strengte mit Anwalt Benecken eine Wiederaufnahme des Verfahrens an – und wurde unter Aufhebung des vorherigen Urteils freigesprochen. „Was total unterschätzt wird, ist, wie schlimm es ist, wenn der Staat, dem man vertraut, zum Gegner wird und einen unschuldig verurteilt – auch wenn es nur eine Geldstrafe war, Annelie ist fast psychisch zugrunde gegangen“, sagt Benecken.
Die Strafverteidiger betonen bei aller Kritik, dass sie das deutsche Rechtssystem nicht grundsätzlich infrage stellen: „Wir finden es ganz hervorragend, möchten aber sagen: Es gibt Schwächen und darüber zu diskutieren, kann das gute System ja nur noch besser machen“, sagt Benecken. Mit dem Buch wollen sie deutlich machen, dass Fehlurteile nicht als Kollateralschäden hingenommen werden dürfen. Sie haben Vorschläge, was sich ändern müsste: „Es kann zum Beispiel nicht sein, dass ein Richter immer wieder denselben Pflichtverteidiger beiordnet“, sagt Reinhardt: „Hier muss ein Rotationsverfahren eingeführt werden, sodass eine bunte Mischung entsteht.“Die Verteidiger fordern auch, dass jede Vernehmung auf Video aufgezeichnet wird. „Es kommt immer wieder vor, dass Dinge im Protokoll fehlen, die später wichtig werden“, sagt Benecken. Glaubwürdigkeitsgutachten bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen bei Sexualdelikten und ein Qualitätssiegel für alle Sachverständigen könnten seiner Meinung nach ebenfalls helfen, Fehler zu vermeiden.
„Ähnlich wie bei den Pflichtverteidigern wählen Gerichte oftmals aus einem engen Kreis ihre Lieblingsgutachter aus“, heißt es im Buch. „Nicht selten führen sogar persönliche Bekanntschaften über Rotary oder Lions Clubs dazu, dass Sachverständige bestellt werden.“Die Autoren fordern, dass sich die Gutachter einer regelmäßig zu wiederholenden Prüfung einer neutralen Kommission unterziehen müssen. Ein fehlerhaftes Gutachten hat etwa im Fall Gustl Mollath dazu geführt, dass der Mann in Bayern sieben Jahre in der geschlossenen Psychiatrie saß.
Das Buch zeigt, dass es jeden treffen kann, zu hart oder unschuldig bestraft zu werden. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, heißt es in Artikel drei des Grundgesetzes. „In der Praxis existiert dieser Gleichheitsgrundsatz aber eigentlich nicht“, sagt Benecken.