Rheinische Post - Xanten and Moers
„Zuwanderung allein wird das Problem nicht lösen“
Der Chef des Forschungsinstituts RWI über die Bürgergeld-Reform, Rentenpläne, den Fachkräftemangel und neue Chancen, die sich durch Migration auftun.
Herr Schmidt, die Geburtenrate in Deutschland ist seit Langem niedrig, nun sinkt sie auf 1,36 Kinder pro Frau. Was bedeutet das langfristig mit Blick auf Arbeitsmarkt und Wirtschaftswachstum?
SCHMIDT Langfristige Entwicklungen von Beschäftigungsvolumen und Wirtschaftswachstum hängen natürlich auch von kurzfristigen Schwankungen der Geburtenrate ab. Das Unheil, wenn man so will, ist aber ohnehin längst angerichtet: Einer großen Generation sogenannter Babyboomer der 1950er- und 1960er-Jahre sind weit kleinere Generationen gefolgt. Da die geburtenstarken Jahrgänge nun in den Ruhestand eintreten werden, gehen dem Arbeitsmarkt viele erfahrene und produktive Arbeitskräfte verloren, die nicht so einfach ersetzt werden können. Das wird unser Wirtschaftswachstum aller Voraussicht nach erheblich dämpfen. Eine sinkende Geburtenrate verschärft diese Probleme perspektivisch weiter.
Kann Zuwanderung das Problem des Fachkräftemangels in Deutschland lösen?
SCHMIDT Die Zuwanderung von Fachkräften ist prinzipiell von zentraler Bedeutung, um der Erosion der Fachkräftebasis entgegenzuwirken. Die aktuellen Projektionen der Bevölkerungsentwicklung gehen dementsprechend bereits davon aus, dass der demografische Wandel durch Zuwanderung abgemildert werden wird. Allerdings gilt: Zuwanderung allein wird das Problem des Fachkräftemangels nicht lösen können. Um auf Dauer genügend Fachkräfte zu haben, müssen vielmehr weitere zur Verfügung stehende Hebel genutzt werden. Dazu gehören Anstrengungen, mehr inländische Arbeitskräfte zu mobilisieren, Digitalisierung und Automatisierung konsequent auszubauen sowie gezielt Aus- und Weiterbildung anzubieten.
Wie viele Zuwanderer brauchen wir – und wie viele kann die Gesellschaft verkraften?
SCHMIDT Deutschland würde rein rechnerisch eine jährliche Nettozuwanderung von schätzungsweise 400.000 Personen benötigen, um das Arbeitskräfteangebot langfristig konstant zu halten. Diese Rechnungen blenden allerdings konstruktionsbedingt aus, wo diese Menschen Unterkunft finden sollen und wie ihre Integration gestaltet werden kann. Realistisch erscheint mir eine jährliche Zuwanderung in dieser Größenordnung daher nicht. Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, ist zudem nicht nur entscheidend, wie viele Menschen nach
Deutschland kommen. Die Herausforderung liegt vor allem darin, zukünftig deutlich mehr Fachkräfte als bisher zu gewinnen. Die Akzeptanz für Zuwanderung zur Behebung des Fachkräftemangels scheint mir in der Bevölkerung jedenfalls durchaus hoch zu sein.
Wie beurteilen Sie das Bürgergeld, so wie die Ampel-Regierung es eingeführt hat, mit Blick auf Arbeitsanreize?
SCHMIDT Letztlich muss ein System der sozialen Absicherung eine gute Balance finden, einerseits eine Untergrenze des Lebensstandards zu sichern und andererseits Anreize zur Arbeitsaufnahme zu setzen. Das Arbeitseinkommen sollte daher hinreichend deutlich über der staatlichen Unterstützungsleistung liegen. Mehr und mehr verfestigt sich jedoch der Eindruck, dass das Bürgergeld bei Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen teilweise sehr geringe Anreize setzt, eine bestehende Erwerbstätigkeit auszuweiten oder gar eine neue Tätigkeit aufzunehmen. Daher erscheint eine erneute Reform des Bürgergelds sinnvoll, die nicht zuletzt das System vereinfacht, beispielsweise beim Zusammenspiel von Bürgergeld und Wohngeld.
Was halten Sie vom Vorschlag der Union zur Reform des Bürgergeldes? Danach sollen etwa Totalverweigerer keine Hilfe mehr erhalten. SCHMIDT Zweifellos ist die Anzahl der sogenannten Totalverweigerer äußerst gering; die Diskussion steht somit stellvertretend für die Grundsatzfrage, ob das Prinzip „Fördern und Fordern“aufrechterhalten werden soll. Falls ja, sollte dieses Prinzip auch mit Sanktionen durchgesetzt werden können. Im Idealfall müssen sie dann auch nur in seltenen Fällen greifen. Auf dieses Prinzip zu verzichten, nur um zu verhindern, dass Personen, die von Sanktionen betroffen sein könnten, Jobs von schlechter Qualität aufnehmen oder sich in die Schwarzarbeit zurückziehen, überzeugt mich nicht.
Was bedeutet die demografische Entwicklung für die gesetzliche Rentenversicherung? Ist das Umlageverfahren noch zu halten? SCHMIDT Wegen der steigenden Lebenserwartung und der seit Langem niedrigen Geburtenraten wird das Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern weiter steigen. Entsprechend müsste im Rahmen des
Umlageverfahrens künftig entweder das Rentenniveau sinken, der Beitragssatz steigen oder der Bundeszuschuss höher ausfallen. Da die Bundesregierung mit dem Rentenpaket II beschlossen hat, das Rentenniveau bis 2039 bei 48 Prozent des Lohnniveaus festzuschreiben, will sie offenbar hinnehmen, dass der Beitragssatz und der Bundeszuschuss aus Steuermitteln mittelfristig erheblich steigen werden. Höhere Bundeszuschüsse werden allerdings nur mit erheblichen Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen des Staates möglich sein: Um das Umlagesystem zu bewahren, wird daher die junge Generation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stark belastet werden müssen. Zugleich wird die Rendite ihrer eigenen Rentenzahlungen aller Voraussicht nach eher bescheiden ausfallen. Das alles wird Deutschland nicht zuletzt im internationalen Wettbewerb um Fachkräfte kaum attraktiver machen.
Wie sähe eine sinnvolle Reform denn aus?
SCHMIDT Die Rendite am Kapitalmarkt ist höher als die des Umlagesystems. Daher wäre es sinnvoll, die kapitalgedeckten Anteile der Rente schrittweise und entschieden gegenüber den durch das Umlagesystem abgedeckten Anteilen zu stärken. Der Übergang kann natürlich nur nach und nach geschehen, um nicht eine einzelne Generation übermäßig zu belasten. Mit dem „Generationenkapital“ist die Bundesregierung einen ersten, aber zu kleinen Schritt in diese Richtung gegangen. Eine Reformoption wäre, nach schwedischem Vorbild Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu erlauben, einen Teil ihres Einkommens anstatt in das Umlagesystem in einen staatlichen oder einen privat gewählten Fonds einzuzahlen und diesen Anteil mit der Zeit zu erhöhen.
Zugleich leben die Menschen immer länger, was den Druck auf die Rentenkassen weiter erhöht. Brauchen wir die Rente mit 70?
SCHMIDT Die Lebenserwartung im fortgeschrittenen Alter nimmt erfreulicherweise von Generation zu Generation stetig zu. Darauf hat der Gesetzgeber mit einer schrittweisen Erhöhung des Renteneintrittsalters auf bald 67 Jahre reagiert. Diese Erhöhung verhindert, dass sich aktuelle Zugewinne der Lebenserwartung im fortgeschrittenen Lebensalter ausschließlich in eine längere Bezugsdauer von Rente übersetzen. Dies ist ein Akt der Fairness, denn dieser Zugewinn an Lebenseinkommen muss ja von einer kleineren nachfolgenden Generation von Beitragszahlern und Steuerzahlern finanziert werden. Aber nach dem Jahr 2030 werden sich Fortschritte bei der Lebenserwartung im höheren Alter aller Voraussicht nach fortsetzen. Es wäre daher fair, auch nach 2030 die Lebensarbeitszeit behutsam auszuweiten, gekoppelt an die steigende Lebenserwartung.