Rheinische Post - Xanten and Moers
Innensicht eines traumatisierten Landes
Oliver Vrankovic besuchte kürzlich die Hermann-Runge-Gesamtschule in Moers. Der in Israel lebende Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Stuttgart berichtete über das Massaker vom 7. Oktober 2023. Warum Multiperspektivität bei jungen Menschen w
„In Israel ist noch immer der 7. Oktober 2023“– diese Feststellung ist wohl eine der wichtigsten, die Oliver Vrankovic im Plenum vor den Elftklässlern der Moerser Hermann-Runge-Gesamtschule (HRG) gemacht hat. Zum wiederholten Mal ist der gebürtige Stuttgarter in Moers. Seit 2007 lebt er in Israel, arbeitet seit 2010 als Pflegehelfer in der Einrichtung Pinkhas Rozen bei Tel Aviv, die zunächst für deutsche Holocaust-Überlebende gebaut wurde und sich später für andere Nationalitäten öffnete.
Vrankovic hat sich früh zum sogenannten „Zweitzeugen“(=zweiter Zeuge) erklärt und folgte damit der dringlichen Bitte der Heimbewohner. „Gegen das Vergessen“lautet sein Auftrag. In der HRG berichtete er von den Erlebnissen des 7. Oktober 2023. „Ein Tag, den niemand vergessen wird“, sagt Vrankovic über das Massaker der Hamas, das an dem Tag ab 6.30 Uhr die Welt erschütterte. Zunächst habe man an einen Fehlalarm gedacht. „Dann wurde klar, dass alles real ist.“
Die Zahl der Toten, Entführten und Verletzten stieg. „Alles lag an Grausamkeit jenseits des Vorstellbaren. Menschenleben wurde vor Ort brutal ausgelöscht. Ihr bestialisches Treiben filmten die Täter und stellten es ins Netz. Die Videos zeigen sie bei bester Laune“, sagt der 44-Jährige. Er spart auch nicht an Einzelbeispielen, wohl wissend, dass diese Informationen schwer zu verdauen und kaum zu ertragen sind. Er gibt Einblicke in ein traumatisiertes Land und in die Welt des Antisemitismus. Im Alltag sei
der Krieg allgegenwärtig, die Angst regiere mit Blick auf die täglichen Horrornachrichten. Die Zahl der Selbstmorde nehme zu.
„Wir erlebten das Gefühl, allein zu sein. Auch in Deutschland wurden die Gräueltaten im öffentlichen Raum wie in Neukölln gefeiert“, sagte Vrankovic. „Auf Reaktionen unserer Bündnispartner mussten wir warten. Sie kritisierten das Vorgehen
des israelischen Militärs. Wir hatten die Weltöffentlichkeit gegen uns“, beschreibt er die Zeit nach dem Massaker. Das Dilemma sei offenkundig gewesen. Mit entsprechendem militärischem Druck habe man gehofft, mehr Geiseln zu befreien. „Ich schätze, dass etwa die Hälfte bereits tot ist. Warum sollte die Hamas die Geiseln aus der Hand geben? Eine Geiselbefreiung
entfällt“, sagte Vrankovic. „Ich weiß nicht, wie unser Leben in Zukunft sein wird. Das Ziel der Hamas ist die Zerstörung Israels und der Aufbau einer islamischen Herrschaft, unterstützt vom Iran.“
Auch sei unklar, wo Interessen von Präsident Benjamin Netanjahu liegen. In welch komplexer Weise die Welt an diesem Konflikt beteiligt ist, welche militärische Rolle beispielsweise die Iran-Russland-Achse sowie die Vereinten Nationen spielen, erläuterte er in einem nächsten Punkt. Veränderung sei der verkehrte Begriff. „Mit dem Massaker ist ein ganzes Weltbild zerbrochen. Die Aussichten auf einen Frieden sind sehr trübe. Ich sehe ihn nicht“, so Vrankovic.
Die Jugendlichen hatten sich auf seinen Besuch mit ihrer Projektkursleiterin Saskia Elle, Koordinatorin für Erinnerungskultur und Israel-Kontakte, gründlich vorbereitet. Nicht nur, um Solidarität zu
zeigen, sondern auch, um aus erster Hand Informationen zu bekommen. „Wir wollen mit Oliver Vrankovic in den Dialog kommen und erste Antworten finden. Wir wollen als HRG Gesicht zeigen“, sagte Schulleiterin Gerhild Brinkmann, die auf die dichte Verbindung zur israelischen Partnerstadt Ramla hinwies. „Als Schule nehmen wir die Situation sehr ernst und stehen in der Aufforderung, Multiperspektivität zu finden. Die eine Wahrheit gibt es nicht. Vielmehr übernehmen Jugendliche manipulierte Informationen über soziale Medien. Darin liegt die Gefahr“, ist sie der Meinung.
Auf die starke Rolle der Medien und die bewusste Verbreitung von Falschmeldungen wies Vrankovic später hin. Die Hamas schob Israel die Schuld zu. „Die ganze Welt hat es geglaubt“, sagt Vrankovic. Geheimdienste sprachen später von einer fehlgeleiteten Rakete einer militanten Palästinenserorganisation.