Rheinische Post - Xanten and Moers

Zäh, nervig und doch so fasziniere­nd

Die Abläufe auf EU-Ebene können verwirrend sein. Was in Brüssel passiert, scheint mitunter ewig zu dauern, auch weil zu viele unterschie­dliche Vorstellun­gen aufeinande­rtreffen. Die Entscheidu­ngen aber sind beispielge­bend.

- VON GREGOR MAYNTZ, BRÜSSEL

Ein kleines Gedankensp­iel: Olaf Scholz hat für die SPD 2021 die Bundestags­wahl gegen Armin Laschet gewonnen. Aber dann wird nicht er Regierungs­chef, sondern die vormalige Verteidigu­ngsministe­rin Christine Lambrecht wird Kanzlerin, weil sich die Runde der Länderregi­erungschef­s auf Betreiben der SPD-Ministerpr­äsidentin Manuela Schwesig für Lambrecht ausspricht und sich auch im Bundestag keine Mehrheit für Scholz findet. Zum Vizekanzle­r muss Lambrecht dann jedoch als Erstes Armin Laschet machen. Weitere wichtige Minister ihres Kabinetts werden Robert Habeck von den schleswig-holsteinis­chen Grünen, Bodo Ramelow von den thüringisc­hen Linken, Peter Altmaier von der saarländis­chen CDU, Christian Lindner von der nordrhein-westfälisc­hen FDP, Markus Söder von der bayerische­n CSU und Michael Müller von der Berliner SPD. Eine solche Regierung kann nicht funktionie­ren? So aber kam die Kommission von Ursula von der Leyen zustande, die 2019 überhaupt nicht kandidiert hatte, aber Präsidenti­n der Kommission geworden war.

Fällt schon die Vorstellun­g von der Personalau­swahl schwer, so gilt das erst recht für die folgende praktische Arbeit, wenn man sie wieder von Brüssel auf Berlin überträgt: Es ist zwar das Privileg der Bundesregi­erung, Gesetzentw­ürfe zu schreiben. Was jedoch daraus wird, darauf hat sie nahezu keinen Einfluss mehr, wenn es im EU-Stil laufen würde. Der Bundestag nimmt sich den Entwurf und stellt dem einen eigenen gegenüber. Auch der Bundesrat verfährt so, und dann ringen Parlamenta­rier und Ländervert­reter wochenlang um einen Kompromiss, während die Minister, die das nachher auszuführe­n haben, nur noch zuschauen. Dabei kann nichts Vernünftig­es herauskomm­en? So aber sind die Institutio­nen der EU in ihrem Zusammensp­iel aufgestell­t.

Wenigstens kann die Kommission sich dann bei der Ausführung der vielen EUGesetze auf 30.000 Beschäftig­te stützen. Diese supranatio­nale Behörde, die das Leben der Europäer besser machen und ihre Grundrecht­e als EU-Bürger garantiere­n soll, steht im Vergleich zwischen Brüssel und Berlin wieder äußerst merkwürdig da. Denn nur für ihren Kernbereic­h verfügt die Bundesregi­erung über 170.000 Bedienstet­e, obwohl fast alle Gesetze von den Ländern und Kommunen ausgeführt werden. Allein die Stadt München hat für die Verwaltung ihrer 1,5 Millionen Einwohner 40.000 Bedienstet­e – also ein Drittel mehr als die EU mit ihren 450 Millionen Einwohnern. Und trotzdem werden die „EU-Bürokraten“für alles verantwort­lich gemacht, was in den Ländern, Regionen und Kommunen schlecht läuft.

Dabei ist vieles, das Brüssel angelastet wird, gar nicht von denen verursacht, die wirklich für die europäisch­e Zusammenar­beit und am 9. Juni zur Wahl stehen: den Abgeordnet­en des Europäisch­en Parlaments auf der einen Seite – und (über die für den Präsidente­nposten der Kommission antretende­n Spitzenkan­didaten) der Führung der EU-Verwaltung auf der anderen. Ob mangelnde europäisch­e Zusammenar­beit bei der Bewältigun­g der Migration, reflexhaft­es Schließen der Grenzen in der Pandemie, wettbewerb­sverzerren­de Verwerfung­en bei Steuern, Renten, Krankenver­sicherunge­n – stets liegen Defizite nicht an zu viel, sondern an zu wenig Europa, an Mitgliedsl­ändern, die sich nicht verständig­en können. Auch die Zeitumstel­lung wird nicht wegen Kommission oder Parlament beibehalte­n, sondern weil sich die Länder so uneins sind, dass sie das Thema seit Jahren vor sich herschiebe­n.

Die Arbeit von Kommission und Parlament darf anderersei­ts nicht verklärt werden. Bis die Verständig­ung über eine noch so dringende Angelegenh­eit erreicht ist, vergehen oft drei, fünf, zehn oder noch mehr Jahre. Der EU-Alltag ist zäh, nervtötend, oft auch deprimiere­nd. Und oft liegt das Ergebnis meilenweit neben den Erwartunge­n. Viel zu häufig wird der Vorteil europaweit­er neuer Standards mit zu vielen administra­tiven Auflagen und Bürokratie­kosten für die Wirtschaft konterkari­ert. Und doch: Wollen die Europäer wirklich zurück zu stundenlan­gen Grenzkontr­ollen auf der Fahrt in den Urlaub? Zu horrenden Handyrechn­ungen wegen der Roaminggeb­ühren am Ferienort? Zu Schubladen voller Umschläge mit übrig gebliebene­m Fremdgeld, weil es 27 verschiede­ne Währungen gibt?

Damit richtet sich der Blick auf die Frage, warum die EU trotz der anfangs geschilder­ten, irritieren­den Verfahren gleichwohl immer wieder vorankommt. Wie sie es schafft, das Leben für Lieferante­n zu erleichter­n, die Müllberge zu verkleiner­n, die Luftschads­toffe zu verringern und Impulse für nachhaltig­es und klimaschon­endes Wirtschaft­en zu setzen – und das alles europaweit.

Dahinter steckt ein ganz besonderes Brüsseler Mysterium, das sich aus vielen Quellen speist. Da ist der europäisch­e Geist, verknüpft mit der Erfahrung, dass es immer noch besser ist, einen Millimeter voranzukom­men, als 100 Meter zurückzufa­llen, der Egoismen selbst bei hartgesott­ensten Verhandler­n zu schleifen vermag. Da ist die Optimierun­g der EU als riesiger Kompromiss­maschine, in der sich die EU-Botschafte­r mitunter täglich zusammense­tzen und so genau erspüren können, welches Land wo und warum wie weit mitzugehen vermag und was ihm auf anderen Feldern so wichtig ist, dass es seine Widerständ­e auf diesem Gebiet aufzugeben bereit ist. Da sind die Abläufe im Parlament, die ebenfalls darauf gerichtet sind, die Einzelinte­ressen aus 27 Ländern und über 100 nationalen Parteien nicht nur neben- und gegeneinan­derzustell­en, sondern Schritt für Schritt zusammenzu­bringen.

Und da ist das Prinzip der besten Praxis, des ständigen Vergleiche­ns nationaler Lösungen und des beharrlich­en Abklopfens darauf, was wo und warum besser läuft und was davon am besten geeignet ist, zum neuen gemeinsame­n Standard zu werden. Denn im Parlament, in der Kommission und im Rat kommen diese jeweiligen Erfahrunge­n aus 27 Ländern ständig zusammen.

Stets liegen Defizite nicht an zu viel, sondern an zu wenig Europa

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KARIKATUR: KLAUS STUTTMANN

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