Rheinische Post - Xanten and Moers
Endstation Ostsee
Ihr Debüt „22 Bahnen“wurde gefeiert. Jetzt hat Caroline Wahl die Fortsetzung geschrieben: „Windstärke 17“ist eine Liebes- und Verlustgeschichte im Sound ihrer Generation.
So viel steht fest: Ida nervt. Fast jede und jeden. Vor allem aber – manchmal still, manchmal heimlich: sich selbst. Mit ihrem „Faible für Arschlöcher“, wie sie sagt. Und weil sie gelegentlich „so dramatisch“ist. Unterm Strich: Man kann Ida gernhaben, muss es aber nicht.
Literarische Figuren mit dem Namen Ida gibt es vermutlich wie Sand am Meer. Doch wer dann erfährt, dass ihre Schwester Tilda heißt und diese früher im Freibad immer 22 Bahnen geschwommen ist, weiß Bescheid. Caroline Wahl hatte erst im vergangenen Jahr mit „22 Bahnen“das erfolgreichste deutschsprachige Romandebüt hingelegt. Mit der Geschichte rund um Tilda, ihre jüngere, zehnjährige Schwester Ida und die alleinerziehende Mutter, die der Alkohol zum gewalttätigen Monster werden ließ. Das Buch, das Caroline Wahl in wenigen Wochen runtergeschrieben hatte, verkaufte sich bislang 200.000 Mal, wurde mehrfach ausgezeichnet und nicht nur ins Italienische, Französische und etliche andere gängige Sprachen übersetzt, sondern auch ins Arabische und Indische. Noch in diesem Sommer soll der Roman verfilmt werden, der Castingprozess laufe derzeit auf Hochtouren, heißt es beim Verlag.
Bis zur Kinoadaption gibt es neuen Lesestoff der 29-Jährigen. Heute erscheint mit „Windstärke 17“ihr zweiter Roman, der für viele Autoren als der schwierigste gilt. Doch Caroline Wahl hat einfach weitergeschrieben, auf ihre Art unbekümmert, stilsicher, ein wenig rotzig und klug. Tatsächlich ist „Windstärke 17“die Fortsetzungsgeschichte des Debüts. Und der Verlag ist überzeugt vom zweiten Teil und geht mit einer Startauflage von imposanten 170.000 Exemplaren ins Rennen.
Diesmal ist die jüngere Ida die Erzählerin, die inzwischen die Schule beendet hat, Wettkampfschwimmerin geworden ist, das kindliche Bildermalen gegen ein ambitioniertes Schreiben eingetauscht hat. Während Tilda ihren Jugendfreund Viktor geheiratet und eine Familie gegründet hat und als Professorin in Hamburg sesshaft wurde.
Klingt ein bisschen nach Friede, Freude, Eierkuchen – was es natürlich nicht ist. Denn alles beginnt mit einem Todesfall. Und mit Ida, die mit einem blöden Hartschalenkoffer vor ihrer Kindheit flieht, aus der vollen Wohnung mit den hässlichen Möbeln, vor der kürzlich gestorbenen Mutter, deren Alkoholatem noch in der Luft liegt. Auch der Geruch ihrer „Klamotten“strömt noch aus dem Kleiderschrank. Wohin jetzt? Logisch, zur besorgten Tilda nach Hamburg. Doch in Idas Leben ist kaum etwas folgerichtig. Zwar steigt sie brav in den ICE gen Norden, doch seine Endstation, die Ostsee, ist plötzlich anziehend, und so rauscht Ida schnurstracks an Hamburg vorbei. Weil sie ihr Handy auf Flugmodus einstellt, ist Ida für ihre besorgte Schwester erst einmal abgetaucht. Für den Leser nicht.
Idas Geschichte ist eine Verlustgeschichte: von der Jugend, der Mutter, von Bindungen. Kein Halt, nirgends. Und ihr verzweifeltes Schwimmen in der Ostsee trotz Unwetterwarnung bis zur totalen Erschöpfung ist der angetäuschte Versuch, dem allen ein Ende zu setzen. „Und ich weiß nicht, ob ich sterben will“, sagt sie beängstigend lakonisch. Das Wasser wird vorerst das Einzige sein, das sie beruhigt, das Element des Konturlosen und Unbewussten.
Caroline Wahl erzählt nicht die Geschichte einer jungen Frau, die durch desolate familiäre Verhältnisse aus der Bahn geflogen ist und der manchmal nur das Schreien im Wald durch den bevorstehenden Tag hilft. Durch ihren Trotz, ihre Gesprächsverweigerung, ihre naive Eigenwilligkeit und Unruhe schimmert vielmehr die Existenzangst einer Generation durch – mit unsicher gewordenen Zielen und einer Zukunft, die allein mit den pinkfarbenen Klamotten rosig erscheint. Dass auch Caroline Wahl sich gerne derart farbenfroh kleidet, macht „Windstärke 17“noch lange nicht zu einem autobiografischen Roman; aber sie gibt sich doch als Vertreterin ihrer Generation zu erkennen. So viel Anspruch muss sein.
Der Roman nimmt verschiedene Wendungen, ein paar fröhliche darunter, ein paar unerwartet schlimme auch. Zum „Skelett“der Handlung sei lediglich gesagt, dass Ida zeitweilig in der „Robbe“zu kellnern beginnt, dort den alten Knut kennenlernt und über ihn seine Frau Marianne. Sie nehmen Ida wie gefundenes Strandgut bei sich auf, eine unbeschwerte Zeit fast wie Ferien beginnt. Und mit Leif gibt es eine Liebesgeschichte, obwohl Ida gerade keine Kapazitäten für einen wie Jasper hat – wie sie sagt. Und natürlich ist ihre Beziehung nicht unkompliziert, aber es ist eine Beziehung immerhin. Ein überschaubares Personal bevölkert also die Geschichte.
Fans von Caroline Wahl werden sofort ihren typischen Sound wiederfinden. Wahl scheint einfach drauflos zu erzählen, durchaus stilsicher, aber auch etwas unbearbeitet. Das macht ihre Sprache, ihre Dialoge unverstellt, Schreiben gewissermaßen in Echtzeit. Bei anderen Autoren würde man das dann authentisch nennen, bei Caroline Wahl scheint das einfache „echt“aber viel besser zu passen. Dann muss der Leser auch in Kauf nehmen, dass ein Zug „brechend voll“ist, und wird dann wieder belohnt mit der Beschreibung, dass der „Wind das Haus verkloppt“und sich ihre Leidenschaft für Leif wie ein „schlechter Highschool-Liebesfilm“anfühlt.
Man muss nicht das Orakel von Delphi befragen, um behaupten zu dürfen, dass „Windstärke 17“ein Bestseller wird. Dass auch dieser Roman demnächst verfilmt wird. Und dass Caroline Wahl bereits an ihrem dritten Roman voller Lust arbeitet. Die gebürtige Mainzerin lebt jetzt in Rostock. Ist nach ihrem ersten Erfolg einfach dorthin gezogen, um nah am Meer zu sein, nah an der Ostsee. Es war schon immer ein Traum von ihr, wie auch das Schreiben.
In den vergangenen Tagen haben wir ihr eine SMS geschickt mit ein paar Fragen. Die blieb unbeantwortet. Vielleicht hat sie ja ihr Handy auf Flugmodus gestellt.